«Me too» erreicht die NHL mit voller Wucht

5.12.2019 - Von Martin Merk

Innert wenigen Wochen wurde die Kultur der Machos und harten Hunde in der NHL weichgespült in einem Gewitter, das an jenes der «Me-Too-Bewegung» erinnert. Einige harte Hunde hinter der Bande kommen nun von einer jüngeren Generation mit einer anderen Mentalität arg unter die Räder.

«Me too». Ich auch. Dieses System hat nun auch die NHL erreicht. Eines vorweg: Die kriminelle Energie der ersten Fällen missbrauchter Frauen in Hollywood-Kreisen vor zwei Jahren, die diesen Begriff anfänglich prägten, lässt sich mit jenen der NHL nicht vergleichen und soll auch gar nicht bagatellisiert werden. Die Methoden hinter den aktuellen Enthüllungen laufen hingegen derart auffallend parallel zur damaligen Bewegung, dass man nicht um den Vergleich herum kommt.

Parallele 1 ist die Technologie. Dank sozialen Netzwerken, insbesondere der Amerikaner liebster Brandbeschleuniger Twitter, können Leute sich an die Öffentlichkeit wagen, die es aus Befürchtung von impliziten Sanktionen innerhalb der Branchen und ungeschriebener Gesetzen nicht gewagt hätten. Als Spieler einen harten Trainer zu kritisieren, etwa mit dem GM oder Clubbesitzer darüber sprechen? Man wäre zum Weichei abgestempelt worden. Ins Farmteam verbannt worden. Andere Clubs hätten ihn geächtet. So wie die Schauspielerinnen, die Angst hatten, keinen Job zu bekommen, wenn sie aufmuckten. Auf Twitter, mit der breiten Öffentlichkeit im Rücken, schaut dies dagegen völlig anders aus. Dort sind es die Stars aus Sport und Showbusiness, die bezüglich Reichweite und Sympathie an der Macht sind, und nicht die Leute, die ihm Hintergrund die Fäden ziehen.

Parallele 2 ist eben das «me too» an sich. Jemand bricht die Lawine los und andere melden sich ebenfalls. Machen klar, dass was ein vermeintlicher Täter oder ein NHL-Club früher hätte als Einzelfall bagatellisieren können, eben nicht ein Einzelfall ist, sondern zu einem gewissen Grad System hat. Andere Spieler meldeten sich. Ehemalige Spieler, die nichts mehr zu befürchten haben, rechneten ab. Auf mit Boshaftigkeit um sich schlagende Trainer wird nun auch wenn sie virtuell längst am Boden liegen, virtuell erst recht eingeschlagen.

Parallele 3 ist, dass es sich bei den Tätern um Männer in Machtposition aus Nordamerika handelt, welche diese Macht missbrauchten. Andere Weltgegenden sind am Rande betroffen, der «Shitstorm» fegt aber vornehmlich über Nordamerika, im Falle des Eishockeys in der NHL. Im geschützten Schweizer Eishockeymarkt haben die Spieler ohnehin eine bessere Machtposition. Hier wird ein Trainer bei vielen Clubs seinen Job schnell los, wenn die Sozialkompetenz derart unter dem Gefrierpunkt rutscht wie in den folgenden Beispielen aus der NHL.

Was geschehen ist

Eingeleitet hat die Sache ein Ex-Trainer. Don Cherry, der alte weisse Mann mit den bunten Anzügen und harten Worten im kanadischen Fernsehen, hat als Spieler und Trainer die wilden Zeiten der NHL miterlebt und machte im Coach’s Corner im Fernsehen auch als Greis nahtlos weiter. Seine Analysen und Tiraden waren bei seinen Fans beliebt. Dass er gegen Immigranten, «French frogs» (Franko-Kanadier), verwöhnte Amerikaner und verweichlichte Europäer in der NHL wetterte, wurde jahrzehntelang bagatellisiert, war schliesslich Teil der Show und blieb daher kontinuierlich ungestraft. Bis vor wenigen Wochen. Weil sich die Zeiten geändert haben und der öffentliche Druck so gross wurde, dass irgendwann der nächste Ausrutscher der letzte sein sollte. Weil mehr Leute es überdrüssig waren, jahrzehntelang immer das Gleiche zu hören. Und vielleicht auch, weil der Sender merkte, dass er für die NHL-Rechte unnachhaltig viel bezahlt und daher anderswo sparen muss.

Damit war die Legende im kanadischen Fernsehen aus ganz alten Zeiten gestürzt und die Basis für mehr Schaden an der Kultur der übertrieben harten Umgangsformen in der Liga gelegt. Denn die NHL gilt immer noch als Anti-Weichei-Liga unter den grossen Ligen Nordamerikas. Trotz allem Druck wegen Hirnerschütterungen etwa weigert man sich, das in IIHF-Kreisen und Europa gepflegte Motto, wonach es keinen legalen Check gegen den Kopf geben darf, einzuführen, umgeht eine derart konsequente Handhabung mit Regeln wie gegen «blindside hits». Auch «Hockey-Fights» gehören nach wie vor zur Unterhaltungskultur der NHL und werden kaum ernstzunehmend bestraft. Wenn die Zahl der Faustkämpfe abnimmt, liegt dies höchstens daran, dass die Clubs in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr festgestellt haben, dass man Spieler mit Eishockey-Talent braucht, um Spiele zu gewinnen. Klassische «Goons» sind Geschichten vergangener Zeiten geworden.

Die Spieler kommen aber nun hinter ihrem Versteck hervor, auch wenn die Fälle meist Jahre zurückliegen. Den Start machte Akim Aliu, ein in Nigeria geborene Kanadier, der es nicht so recht in die NHL geschafft hatte, dem rassistische Erfahrungen von seiner Zeit in NHL-Camps aber auch heute nicht loszulassen schienen. Nach der Rassismus-Debatte um Don Cherry traf es seinen damaligen Trainer Bill Peters, nachdem Aliu enthüllte, wie dieser ihm gegenüber mehrfach das «N-Wort» verwendete, etwa weil ihm dessen afro-amerikanische Musik in der Kabine nicht passte. Was damals, 2009/10, offenbar hinter den Kulissen ausdiskutiert und beruhigt werden konnte, heute aber für einen Shitstorm sorgt. Danach meldete der Ex-NHL-Spieler Michal Jordan, wie er von Peters hinter der Bande getreten wurde und ein Teamkollege von ihm geschlagen worden sei. Für den Trainer der Calgary Flames gab es keine andere Möglichkeit mehr als von seinem Amt zurückzutreten und sich zu entschuldigen.

Commissioner Gary Bettman und sein Vize Bill Daly trafen sich kürzlich mit Aliu und wollen sich, so das Statement, für einen Prozess einsetzen, damit die NHL auf allen Leveln offen und einbindend sei.

Rassismus ist ein Teil des allgemein respektlosen Verhaltens einiger Trainer der Gattung «harter Hund» gegenüber ihrem Personal. Vor allem wenn ein Spieler der hinteren Linie beliebig auswechselbar ist, wie es eben bei Aliu der Fall war. Was in den letzten Jahrzehnten in Nordamerika wenig gestört zu haben scheint, nun aber sein Ablaufdatum gefunden zu haben scheint.

Als nächster war mit Mike Babcock eine richtige Koryphäe dran. Er galt in Kanada als bester Trainer, führte die Nationalmannschaft zweimal zu Olympia-Gold und kam nach dem Gold von Sotschi als Hoffnungsträger zu den chronisch erfolglosen Toronto Maple Leafs mit einem Salär, wie ihn sonst nur Spielerstars erhalten und von dem Trainer sonst nur träumen können. Über sechs Millionen Dollar pro Jahr soll er erhalten haben. Die Resultate brachte er aber nicht, dafür wurde bekannt, welche Spielchen er mit dem 2016 als hoffnungsvollen Nummer-4-Draft zum Team gestossenen Mitch Marner trieb. Er wurde beauftragt, die am härtesten und am wenigsten hart arbeitenden Spieler auflisten. Babcock wusste nichts Besseres mit dieser Liste anzufangen, als diese der Mannschaft zu präsentieren und gegen die «faulen» Spieler einzustimmen. Wie er auf ein solch teamgeistschädigendes Psychospiel kam, bleibt sein Geheimnis. Mit der Härte und Männlichkeit, welche in der Liga so gerne propagiert wird, hat dies nichts zu tun. Johan Franzén schoss in den schwedischen Medien nach, dass er verbal so gedemütigt worden sei, dass er heute noch Albträume habe, dass Babcock ein fürchterlicher Mensch sei, der selbst das Putzpersonal grundlos zusammenstauchen konnte. Babcocks Ruf hat es derart ramponiert, dass der bestbezahlteste NHL-Trainer aller Zeiten in Nordamerika wohl weder in der NHL noch eine Liga tiefer einen neuen Club finden dürfte. Bestenfalls irgendwo in der russischen Provinz, wo man gegenüber boshaften und autoritären Trainern nicht ganz so abweisend eingestellt sein dürfte. Gerade zu Sowjetzeiten wurden die Spieler dort schliesslich auch nicht allzu freundlich behandelt.

Dort, wo es etwa den ehemaligen NHL- und ZSC-Trainer Bob Hartley hingetrieben hat. Er ist Trainer des Schweizers Sven Andrighetto bei Avangard Omsk, einem Clubs aus Sibirien, der wegen Baumängeln der vor wenigen Jahren eröffneten Halle momentan in einem Moskauer Vorort spielt. Dort geriet er letzte Saison in den Schlagzeilen, weil er eine Dopingkontrolle behindert haben soll. Der Fall wurde ohne Sperre ad acta gelegt. Doch nun machte die «Neue Zürcher Zeitung» eine alte Geschichte publik, wonach Hartley in den Playoffs 2012 den kaum eingesetzten Spieler Sven Ryser in den Playoffs gegen den HC Davos angewiesen haben soll, Reto von Arx an seiner lädierten Hand zu verletzen. Also etwa wie ein klassischer «Goon» zu alten NHL-Zeiten. Ryser lehnte die Aufgabe ab und erhielt fortan keine Sekunde Eiszeit mehr im ZSC-Trikot. Er wechselte auf die nächste Saison hin zum HC Davos und erzählte dort die Geschichte. Dieser wollte laut der Zeitung beim Bundesamt für Sport vorstellig werden, zog die Bemühungen aber zurück, als Hartley Zürich verliess.

Peters war in der NHL nicht der letzte Trainer, der von einem «Shitstorm» weggefegt wurde. Nun wurde auch der Ex-ZSC-Trainer Marc Crawford als Assistenztrainer der Chicago Blackhawks suspendiert. Sean Avery meldete sich in den Medien. Er sei – auch sein Fall liegt weit zurück, im Dezember 2006 – von seinem damaligen Trainer Crawford physisch attackiert worden, weil er eine Strafe wegen zu vielen Spielern auf dem Eis verursacht habe, die zu einem Gegentor führte. Er soll ihn derart fest in den Rücken getreten haben, dass dies blaue Flecken hinterliess. Und auch hier folgten andere Spieler. Etwa Patrick O’Sullivan, der ebenfalls getreten worden sein soll, abgesehen von Beleidigungen und homophoben Äusserungen «auf einer regulären Basis» des Trainers.

Milderes Schweizer Klima

In der Schweiz zeigen sich Spieler eher zurückhaltend zu diesen Fällen. In der NZZ etwa wollte Damien Brunner nichts zu seinem Ex-Trainer Peters sagen. Crawford war auch beim ZSC für sein Temperament bekannt, doch auch hier sind die Voten eher zurückhaltend. «Er ist sicher der lauteste Coach, den ich erlebt habe. Aber er hatte ja meistens recht. Von Übergriffen bei uns ist mir nichts bekannt», sagte etwa der ZSC-Captain Patrick Geering gegenüber dem «Tages-Anzeiger».

Bei vielen Clubs kommen Trainer, die ein Klima der Angst verbreiten, nicht weit. Der Konkurrenzkampf im Kader ist in der Schweiz mit der NHL nicht zu vergleichen. Das Machotum im Vergleich zur NHL zwar vorhanden, aber abgespeckt. Hier könnten die Spieler vereint einen Trainer wie Babcock zu Fall bringen. Man denke an die vielen Trainerwechsel etwa in Fribourg oder Lugano. Nur wenige Trainer wie Arno Del Curto oder Chris McSorley konnten sich eine Dynastie in ihrem Club aufbauen.

Einzig der zurückgetretene Chris Rivera war etwas offensiver. Er spielt nun aus Freude zum Sport in der 3. Liga und hat nichts zu befürchten, wenn er über den langjährigen Servette-Trainer Chris McSorley auf Twitter schreibt, dass all die Geschichten über Mike Babcock ihn an die Zeiten McSorleys erinnern, der ihn einerseits gefördert, andererseits als Mensch und Spieler zerstört habe.

Die NHL-Version von «me too» könnte nun für ein reinigendes Gewitter sorgen und den Spielern in der besten und härtesten Liga mehr Respekt verschaffen. Denn auch in der NHL wächst eine neue Generation an Spielern an. Eine Generation, die mehr offene Kommunikation von Trainern wünscht, die digital vernetzt ist und in der es zum Horror von Don Cherry auch immer mehr Amerikaner und Europäer gibt und nicht nur Kanadier, welche das Eishockey auf einer gefrorenen Eisfläche hinter dem Haus erlernt haben noch bevor sie bis zehn zählen konnten.

So wird die möglicherweise noch weiterlaufende Affäre in der NHL möglicherweise etwas vom rauhen Umgangston der Trainer rausnehmen und vielleicht auch für mehr Einbezug von Spielern fernab von Don Cherrys Heimat und Hautfarbe sorgen. Das sind gute Neuigkeiten für die Spieler, die sich nicht mehr von einem Klima der Angst einschüchtern lassen wollen in der NHL. Und ein Horror für den Lebensabend des 85-Jährigen Don Cherry und dessen Anhänger, die früher sowieso alles besser fanden. Damals, als es weder Twitter noch Eishockeyhelme gab.

Background-Portal

Trainer im Auge des Shitstorms

Galt in Kanada als bester Trainer der Welt und ist nun auf dem Abstellgleis. Mike Babcock wurde in Toronto freigestellt. Foto: Andreas Robanser
 

Der Ex-ZSC-Trainer Marc Crawford wurde in Chicago suspendiert. Foto: Dominik Hew