Was wurde aus... Andrew McKim?

Montag, 19. November 2001, 00:00 - HF_LEGACY

Am 31. Oktober 2000 ging die Eishockey-Karriere von Andrew McKim im Trikot der ZSC Lions zu Ende. Zuvor spielte er auch für Kloten, Servette, dem Team Canada und trotz seiner kleinen Körpergrösse von 1.70 m auch 38 Mal in der NHL. Die 12. Minute im Heimspiel gegen den HC Davos lief an, McKim passte zu Hodgson, der vor knapp 10 000 Zuschauern zur 3:0-Führung einschoss. Gleichzeitig wurde McKim vom HCD-Stürmer Kevin Miller gefoult - dies war seine letzte Minute auf dem Eisfeld. McKim musste raus und kehrte nicht mehr zurück, Miller wurde für das Spiel und später für acht weitere Spiele ausgeschlossen und sein erzürnter Trainer Arno del Curto wurde vom Schiedsrichter Reiber ebenfalls weggeschickt. Das Magazin "Facts" hat sich dem Fall Miller noch einmal gewidmet und ihn in seiner Heimat Kanada besucht. Nachfolgend der ungekürzte Artikel.

«Miller hat mein Leben zerstört»

Nach seiner schweren Gehirnerschütterung vor einem Jahr gibt es für ZSC Lion Andrew McKim keine Rückkehr aufs Eis.

Von Kurt Brandenberger

Schwer, sich vorzustellen, dass in dieser Gegend Kanadas der Herbst besonders golden, das Klima überaus mild sein soll. Es ist grau, nass und kalt. Seit Tagen regnet es ohne Unterlass. Ein eisiger Wind trägt die Schauer vom Meer her übers Land und rüttelt an den bunten, holzverschalten Schindelhäusern. Die Schiffe im Hafen schlagen ächzend gegen die Planken am Quai. Wer durch die Strassen geht, stemmt sich gegen den Sturm und trägt hohe Stiefel an den Füssen.

Andrew McKim sitzt am Steuer seines Wagens und fährt durch die Nacht, die bereits am Nachmittag beginnt. Draussen in Goulds, einem Dorf bei St. John's, dem Hauptort Neufundlands, hält er vor einer alten, kalten Eishalle. Hier hat McKim zweimal wöchentlich zu tun. Er unterstützt den Coach der lokalen Juniorenmannschaft beim Training - von der Bande aus, aufs Eis darf er nicht, noch immer nicht, wahrscheinlich nie mehr.

Die Matchuhr steht auf 11:07 an diesem lärmigen Abend am 31. Oktober letzten Jahres, als auf dem Eis des Zürcher Hallenstadions das Leben des Andrew McKim als Eishockeyspieler ein jähes Ende nimmt. Der kleine Kanadier, Flügelstürmer der ZSC Lions, hat Sekunden zuvor den Puck seinem Mitspieler Dan Hodgson zum 3:0 gegen den HC Davos vorgelegt. Während McKim seinem präzisen Zuspiel nachschaut, fährt der Davoser Kevin Miller ungebremst auf ihn zu, hebt den Ellbogen und schlägt diesen dem ZSC-Spieler an den Hinterkopf. McKim fällt vornüber und prallt mit dem Kopf heftig aufs blanke Eis. Der Schlag wirkt auf das Gehirn wie eine Auffahrkollision ohne Nackenstütze.

Das Zürcher Publikum tobt - aus Begeisterung über das dritte Tor der Lions und aus Empörung über den hinterhältigen Niederschlag Andrew McKims. Der Kanadier kniet blutend auf dem Eis. Durch den wuchtigen Aufprall wurde der Gesichtsschutz des Helms durchgedrückt. Schnittwunden auf der Stirn und Quetschungen an Nase und Wangen sind die Folge. «What happened?», «Who did it?», lallt er im 15-Sekunden-Intervall. Die Erinnerungen sind ausgelöscht. Er weiss nicht, dass er Hockey spielt, dass er Kinder hat.

«Kein Mensch», erwidert Andrew McKim auf die Frage, wer ihn am 31. Oktober 2001, ein Jahr nach dem verhängnisvollen Schlag im Hallenstadion, angerufen habe. Dabei bleibt sein Gesicht regungslos, wie immer, wenn die Rede ist von Millers Attacke und den Folgen. Enttäuscht, dass keiner der Kollegen seiner gedachte an diesem Tag? «Die Sportwelt hat ein kurzes Gedächtnis», antwortet McKim und rennt rasch seinem kleinen Sohn Matthew durchs Wohnzimmer nach, um die hochkommenden Emotionen nicht zu zeigen.

Im Spital Wetzikon diagnostiziert der Teamarzt der ZSC Lions, Gery Büsser, ein Schädel-Hirn-Trauma. Es ist nicht das erste in der langen Karriere des 31-Jährigen, aber das schlimmste. Immerhin zeigt die Computertomografie, dass eine Schädigung der Gehirnsubstanz ausgeschlossen werden kann. Kevin Miller wird vom Einzelrichter der Nationalliga für acht Spiele gesperrt. Zudem muss der 34-jährige Amerikaner eine Busse von 3000 Franken bezahlen. Miller, zu jener Zeit Topskorer der Nationalliga A, habe «zumindest mit Eventualabsicht gehandelt und erhebliche Konsequenzen in Kauf genommen», habe jeglichen Respekt vor dem Kopf- und Halsbereich des Gegenspielers vermissen lassen, heisst es in der Urteilsbegründung.

Wut und Angst, Hoffen und Bangen sind die Gefühle, die Andrew McKim in den nächsten Monaten umtreiben. Kopfschmerzen und Konzentrationsschwächen, Erinnerungslücken, Schwindel und Erschöpfung plagen ihn. Wann, so fragt er sich, werde ich aufs Eis zurückkehren können? Jede körperliche Anstrengung, und sei es nur das Rumtollen mit den Kindern zu Hause, löst stechende Kopfschmerzen aus. Er braucht zwölf Stunden Schlaf, um den Tag zu bewältigen. «What happened», «Who did it» weiss er inzwischen. Immer und immer wieder hat er sich das Video mit dem Angriff Millers angeschaut. Die Szene verfolgt ihn, bis in die Träume. Er nimmt sich einen Anwalt, und der reicht Zivilklage ein wegen «schwerer Körperverletzung».

St. John's, die Hafenstadt am Atlantik, im äussersten Nordwesten Kanadas, ist McKims neues Zuhause. Von hier stammt Andrews Ehefrau Leanne. Hier haben ihre Eltern ein kleines Fährunternehmen, das Touristen im Sommer zum Beobachten der Wale aufs Meer hinausfährt. «In dieser kleinen, ruhigen Stadt bleiben wir», sagt McKim, und es klingt wie «Endstation».

Es wird Frühling. Seine Mannschaft, die ZSC Lions, bei denen er noch bis 2002 unter Vertrag ist, spielen in den Playoffs, werden Schweizer Meister. Andrew McKim sitzt in der Halle, trifft seine Mitspieler, freut sich am Erfolg. Gleichzeitig wird die Befürchtung zur Gewissheit: Das Leben als Eishockeyspieler ist zu Ende. Ein weiterer Schlag an den Kopf könnte zu schwerer Behinderung oder zum Tod führen. Der schnelle Flügelstürmer ist ein Versicherungsfall. Gutachter sind damit beschäftigt, den Rentenanspruch zu bestimmen, festzulegen, wie lange der 31-jährige Kanadier noch berufsmässig hätte Eishockey spielen können und zu welchem Einkommen. Und bis die zivilrechtliche Causa Miller/McKim entschieden ist, kann es Jahre dauern.

Zuhause, in St. John's vor dem Fernseher, wo McKim die Live-Übertragung eines NHL-Spiels verfolgt, spricht er, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet, den Satz: «Ich wünschte, alles wäre nur ein Alptraum, und ich erwachte am Morgen und würde nach dem Frühstück ins Hallenstadion zum Training fahren.» Es scheint, es gebe - ein Jahr nach dem Unfall - noch keinen Trost für McKim. Auf die Frage, was er höre, wenn er in sich hineinhorche, sagt er: «Wut, Trauer, Verzweiflung - sonst nichts.»

Der Kopf schmerzt - manchmal hämmernd, dann plötzlich stechend. Die Konzentration ist schlecht. Er vergisst schnell, ermüdet rasch. Im Sommer spielte er Golf. Das ging. Fischen auf dem Boot, draussen in der Bucht, war zu anstrengend. Nach einer Viertelstunde Rasenmähen wurde ihm schwindlig. Vor wenigen Tagen setzte er sich im Kraftraum aufs Rad. Danach schaffte er es kaum mit dem Wagen nach Hause.

Der Genesungsprozess nach einer schweren Gehirnerschütterung kann Jahre dauern. Das weiss McKim. Er, der bei den ZSC-Kollegen als fröhlicher, kommunikativer Mensch beliebt war, reagiert mit schweigendem In-sich-hinein-Fressen. Nur manchmal, nach einer schlaflosen Nacht, fragt er Leanne: «Was soll aus mir werden? Eishockey spielen ist meine Leidenschaft, mein Leben.» Fünf Jahre, glaubt Andrew McKim, hätte er noch in der Nationalliga A, dann zwei bis drei Jahre in der NLB gespielt, um danach als Coach weiterzuarbeiten. «Aber Miller hat mir alles weggenommen.» Alles? Was ist mit der Familie? «Nein», sagt McKim, «die Familie rettet mich vor dem Sturz ins schwarze Loch.» Ein andermal, auf dem Weg nach Goulds, sagt er: «Ich habe Glück gehabt im Unglück. Millers Check hätte tödlich sein können.» Dann zählt er NHL-Cracks auf, die trotz wiederholter Gehirnerschütterungen weitergespielt hätten und plötzlich gestorben seien. Dieses Risiko dürfe er als Familienvater nicht eingehen.

Mit knapp drei Jahren steht Andrew McKim - wie viele Kanadier - erstmals auf Schlittschuhen. Mit 20 hat er bei den Calgary Flames den ersten Vertrag als NHL-Profi. Es folgen Salt Lake City, St. John's, Boston, Detroit. Immer wieder wird er abgeschoben ins Farmteam, wegen der «size», wie McKim sagt, der Grösse. Spieler, die kleiner sind als 1,75 Meter, haben auf den engen Eisfeldern der NHL einen schweren Stand.

Mit dem Team Canada gewinnt Andrew McKim 1995 an der Weltmeisterschaft die Bronzemedaille. Er wird - auf dem grösseren europäischen Eisfeld - der Topskorer des Turniers. Wie viele Tore und Assists es waren, daran kann er sich nicht erinnern. Auch nicht, wer Weltmeister geworden ist. «Sorry, das sind die Gedächtnislücken, die ich seit Millers Attacke habe», sagt McKim mit steinerner Miene. Im gleichen Jahr zieht er in die Schweiz zum B-Verein HC Servette Genf. Dann folgen zwei Jahre bei den Eisbären Berlin, ein Jahr bei Kloten, wo er zum Topskorer der Liga wird, und schliesslich die ZSC Lions, wo seine Karriere ein plötzliches Ende findet.

«Miller hat mein Leben zerstört», sagt McKim mehrmals: «Es geht nicht um Eishockey, nicht um Sport, es geht um den Respekt vor dem andern, vor dem Mitmenschen.» Wir sitzen im Wohnzimmer von McKims Haus in St. John's. Ich erzähle von meinem Anruf beim «Täter» Kevin Miller, davon, dass es ihm Leid tue, aber dass die Kollision, der Schlag mit dem Ellbogen ohne Absicht geschehen sei. Dass es ihm unverständlich sei, dass McKim als professioneller Eishockeyspieler, der die erhöhten gesundheitlichen Risiken seines Jobs kenne, gegen ihn wegen eines Fouls klage.

Andrew McKim schweigt, schüttelt den Kopf, steht auf und geht in die Küche, um neuen Kaffee zu holen. Wie immer, wenn die Emotionen hochzukommen drohen, flüchtet er. Leanne sagt: «Er musste enorm arbeiten, um als kleiner Mann ein guter Hockeyspieler zu werden. Als er in Kloten und Zürich anfangen konnte, die Früchte zu ernten, war es auch schon zu Ende. Andrew hat ein grosses Herz, er ist ein wunderbarer Ehemann und Vater, aber manchmal habe ich Angst, ihn zu verlieren.»

McKim kann noch keine Pläne schmieden. Er ist gefangen in der Erinnerung an den «Schlag», geplagt von den Symptomen der schweren Hirnerschütterung. Ihm fehlt jede Perspektive ausserhalb der Familie. Sein Leben ist Vergangenheit, selbst von der Gegenwart spricht er, als wäre sie die nahe Zukunft: «Ich werde jetzt viel zu Hause sein und mich an den Kids freuen.» Dabei tut er eben dies seit 52 Wochen. Nur selten spürt er, dass es ein Leben nach dem Eishockey gibt. Dann sagt er in einem Anflug, der zugleich Resignation und Auflehnung ist: «Ich bin ja erst 31 Jahre alt.»

Draussen bläst ein eisiger Wind. Schwere, schwarze Wolken ziehen vorüber. Dann fällt der erste Schnee. Am Abend wird Andrew McKim wieder hinausfahren nach Goulds, in die Eishalle zu den Junioren. Kein grosses Hockey, aber er freut sich, dabei zu sein. «Beginnt nicht jedes neue Leben mit ganz kleinen Dingen?», fragt er, und dabei fliegt ein flüchtiges Lächeln über seine verschlossenen Züge.


Harter Sport

Eric Lindros: Am 26. Mai 2000 erlitt der NHL-Star nach einem harten Check die sechste Gehirnerschütterung seiner Karriere und fiel monatelang aus. Jetzt stürmt er wieder - allerdings mit grossem gesundheitlichem Risiko.

Paul Kariya: Anfang 1998 erlitt Anaheims Jungstar nach einem Crosscheck eine schwere Gehirnerschütterung. Er verpasste die restlichen 28 Saisonspiele sowie die Olympischen Spiele in Nagano. Er spielt heute wieder.

Raymond Walder: Am 19. November 2000 wurde der Stürmer des EHC Chur gegen den EV Zug fair gecheckt - und erlitt eine Gehirnerschütterung. Starke Kopfschmerzen bei Anstrengungen zwangen ihn zum Rücktritt.

Martin Bruderer: Im letzten Herbst zog sich der Verteidiger des HC Thurgau die fünfte Gehirnerschütterung zu. Trotz Trainingspause blieben Kopfschmerzen, Unwohlsein und Gleichgewichtsstörungen; die Ärzte rieten zum Rücktritt.

Adrian Wichser: Der Kloten-Stürmer fiel letzte Saison nach einem Foul des Davosers Thierry Paterlini mit einer Gehirnerschütterung zwei Monate aus und musste zeitweise um die Fortsetzung seiner Karriere bangen.


Unterschätzt
«Summierung katastrophal»

Daniele Mona, Präsident der Medizinischen Kommission des SEHV, über Gehirnerschütterungen.

FACTS: Herr Mona, letzte Woche fand in Wien das erste internationale Symposium zum Thema «Gehirnerschütterungen im Sport» statt. Warum gerade jetzt?
Daniele Mona: In den vergangenen Jahren nahmen die Kopfverletzungen im Sport, speziell die Gehirnerschütterungen, stark zu. Im Schweizer Eishockey betrifft der grösste Teil aller Verletzungen den Kopf, nämlich 25 Prozent. Und davon sind bis 20 Prozent Gehirnerschütterungen.

FACTS: Weshalb sind Gehirnerschütterungen so gefährlich?
Mona: Gefährlich sind Gehirnerschütterungen ersten Grades, da sie oft missachtet werden. Schwerwiegend bei Zweit- und drittgradigen sind Gedächtnisstörungen und Bewusstseinsverlust. Die Summierung der Erschütterungen ist katastrophal. Spätschäden sind möglich.

FACTS: Was wurde in Wien besprochen?
Mona: Wie man die verschiedenen Grade einer Gehirnerschütterung diagnostizieren und behandeln kann und wann die Betroffenen wieder spielen dürfen. Der Welteishockeyverband hat den Auftrag, das aufzuarbeiten; vor Olympia und der Fussball-WM sollen Richtlinien für die Mediziner, die mit den Sportlern arbeiten, erscheinen. Auch der Weltfussballverband und das Internationale Olympische Komitee sind involviert.

FACTS: Was kann man im Schweizer Eishockey gegen die Häufung tun?
Mona: Mit Strafen und Spielsperren ist es nicht getan. Die bestehenden Regeln müssen durchgesetzt, eventuell sogar auch Änderungen vorgenommen werden. Das Wichtigste ist aber Respekt vor der Gesundheit des Gegenspielers.