BaZ 14.11.2020
Corona-Hotspot Romandie
Warum hat die Westschweiz so viele Infektionen?

Die französischsprachige Schweiz verzeichnet deutlich mehr Corona-Fälle als die Deutschschweiz. Es ist eines der grossen Mysterien der Pandemie. Ein Erklärungsversuch in vier Thesen.

Philippe Reichen aus Lausanne

Es ist ein Déjà-vu, ein dramatisches. Die Westschweiz weist nach der ersten Corona-Welle auch in der zweiten die höchsten Fallzahlen auf. Diese Woche folgte ein weiterer negativer Höhepunkt: Genf hat die belgische Region Wallonien abgelöst, der Kanton gilt in ganz Europa als jene Region mit den meisten Infektionen relativ zu seinen Einwohnern.

Das wirft Fragen auf. Die Genfer Regierung hat bereits Ende Juli Nachtclubs und Diskotheken schliessen lassen. Der Kanton hat seither die härtesten Corona-Massnahmen der Schweiz und liess am Donnerstag sogar Alters- und Pflegeheime abriegeln. Der Nachbarkanton Waadt wiederum führte im Sommer eine Maskenpflicht in Läden ein, liess aber sein Nachtleben unberührt. Die zweite Welle trifft, anders als die erste, nun auch die Kantone Jura, Neuenburg, Wallis und Freiburg massiv. Selbst in den zweisprachigen Kantonen Wallis und Freiburg wird deutlich: Die frankofonen Gebiete sind stärker von Covid betroffen als die deutschsprachigen. In der Deutschschweiz sinken die Zahlen bereits wieder, in der Westschweiz verharren sie trotz Lockdown auf hohem Niveau. Die Spitäler arbeiten allerorts an ihren Kapazitätsgrenzen. Patienten müssen in die Deutschschweiz verlegt werden. Die Armee muss helfen.

Warum trifft die Pandemie die Westschweiz derart hart? Warum bekommt man die Verbreitung des Coronavirus einfach nicht in den Griff? In der Romandie macht die Frage Bürger, Wissenschaftler und Politiker ratlos. Wissenschaftlich wurde das Phänomen bislang nicht erforscht. Vier Thesen zu diesem grossen Mysterium.

1. These: Die Angst vor dem Virus schwindet

Als im Frühjahr die Corona-Fallzahlen in der Romandie in die Höhe schnellten, erklärten die Kantonsärzte das Phänomen mit der Grenze zu Frankreich sowie den vielen und engen Verbindungen nach Italien. Darüber hinaus war man sich sicher, dass die Westschweiz mehr Menschen auf das Virus testete und damit mehr Fälle aufgedeckt wurden, während positive Fälle ennet der Saane unentdeckt blieben. Doch heute haben Schweizer Grenzregionen mehr Fälle als Frankreich, die Mobilität (auch nach Italien) ist eingeschränkt, und bei der Positivitätsrate gibt es im kantonalen Vergleich keine signifikanten Unterschiede. Die während der ersten Welle abgegebenen Erklärungen greifen heute nicht mehr.


Derweil hat bei den Bürgern die Angst vor dem Virus trotz hoher Mortalitätsrate abgenommen. Didier Trono, Virologe an der ETH Lausanne, stellte diese Woche in der Zeitung «Tribune de Genève» fest: «Die Menschen haben weniger Angst als während der ersten Welle, als man sich vor dem Unbekannten fürchtete. Heute kennen wir alle Leute, die erkrankten und wieder gesund wurden. Da vergisst man rasch die vergleichsweise wenigen Patienten, die im Spital landen, und die Überlastung, die ab einer gewissen Anzahl Spitaleinweisungen rasch entstehen kann.» Dass Angst und Respekt verloren gingen, habe er in Genf mit eigenen Augen beobachtet, so Trono. Die Cafés seien überfüllt gewesen. Obwohl die Leute grundlegende Massnahmen eingehalten hätten, sei gerade für Genf der massive Anstieg der Corona-Fallzahlen kein Mysterium.

2. These: Die Feierlaune ist zurück

Während im Sommer die Angst vor dem Virus wich und die Fallzahlen auf tiefem Niveau verharrten, nahm die Feierlaune in weiten Teilen der Romandie zu. Gerade im sogenannten Welschwallis ist das Feiern eine gesellschaftliche Tradition. Die Gewohnheit trägt nun dazu bei, dass die zweite Welle das Wallis mit enormer Härte trifft. Am 24. September nahmen tausend Katholiken im Dorf Ecône an der Umbettung des Leichnams des exkommunizierten Bischofs Lefebvre teil, ohne Masken und Sicherheitsabstand.

Dasselbe Bild bot sich Ende September beim in der ganzen Romandie beliebten, mehrtägigen Musikfestival Caprices in Crans-Montana. Hunderte Personen tanzten in einem Zelt. Die Menge war in Sektoren unterteilt, aber niemand trug eine Maske, und alle bewegten sich auf engstem Raum. Diverse Festivalbesucher wurden später positiv getestet.

Um im Oktober auf die traditionelle «Foire du Valais», die berüchtigte Walliser Herbstmesse in Martigny, nicht vollständig verzichten zu müssen, wurden wiederum diverse kleine Apéros für jeweils mehrere Dutzend Personen organisiert – für die Verbreitung des Virus ideal. Die Feiern und Anlässe fanden alle im frankofonen Kantonsteil statt. Dort habe man eine klar deutlichere Zunahme der Corona-Fälle festgestellt als im deutschsprachigen Oberwallis, bestätigt die Walliser Gesundheitsdirektorin Esther Waeber-Kalbermatten. Dazu komme, dass die Bevölkerungsdichte im Oberwallis geringer ist als im französischsprachigen Unterwallis, «was die Ausbreitung des Virus verlangsamt», sagt Waeber-Kalbermatten.

3. These: Die fatale Staatsgläubigkeit

Stefan Schmid, Chefredaktor des «St. Galler Tagblatts», kennt die Romandie aus jungen Jahren, er hat in Freiburg studiert. Er erklärt sich die beständige Hausse der Fallzahlen in der Westschweiz mit einem kulturellen Unterschied. In der Deutschschweiz sei die Eigenverantwortung ein wichtiges Gut, und die Erwartungen an den Staat seien geringer als in der Romandie, sagte er in der Sendung «Infrarouge» im Westschweizer Fernsehen RTS. In der Konsequenz heisst das: Die staatsgläubigen Westschweizer reagieren erst, wenn ihre Kantonsregierungen klare Vorgaben machen und das öffentliche Leben einschränken, während sich Deutschschweizer selbst einzuschränken wissen.

Vor dem Hintergrund der Staatsgläubigkeit sendete gerade die Walliser Kantonsregierung noch Mitte Oktober ein fragwürdiges Zeichen an ihre Bürgerinnen und Bürger. Obschon sich die Spitäler bereits mit Covid-Patienten füllten, gab sie bekannt, dass Bars, Clubs und Restaurants während der touristischen Wintersaison spätestens um 1 Uhr morgens schliessen müssten, in der Silvesternacht sogar erst um 3 Uhr.

Peter Bodenmann, ehemaliger Präsident der SP Schweiz und Briger Hotelier, sagt: «Staatsrat Christophe Darbellay und seine Wirtschafts-Taskforce interessierte alleine die Frage, wie ein Schutzkonzept aussieht, das den Leuten erlaubt, bis am Morgen in der Beiz zu bleiben.» Angesichts der vielen Toten hielt die Zeitung «Le Nouvelliste» jüngst fest: «Schuldig ist niemand, verantwortlich schon.»

4. These: Die Gefahr der Todesküsschen

Der Zürcher Politologe Michael Hermann macht bei Umfragen seines Instituts Sotomo seit Ausbruch der Corona-Pandemie eine interessante Beobachtung. Die Leute in der Romandie seien sich im Vergleich zu Deutschschweizern stets sicherer gewesen, sich genügend vor dem Virus zu schützen. Die Infektionszahlen widersprechen der Selbsteinschätzung. Die Suche nach Gründen vergleicht er mit einem Indizienprozess. So habe sich die Anzahl Kontakte und das Bewegungsverhalten in der Romandie stärker reduziert, und die Schutzmassnahmen seien strenger. Daran könne es nicht liegen. Weil man mittlerweile auch die Nähe zu Frankreich als Treiber ausschliessen könne, bleibe als möglicher Grund nur ein kulturell unterschiedliches Sozialverhalten zwischen Deutsch- und Westschweizern übrig, so Hermann.

Das sei kein «Blame-Game», betont Hermann. Er gehe davon aus, dass die lateinisch geprägten Westschweizer intuitiv weniger Distanz hielten und bei Begegnungen öfter den Körperkontakt suchten und auch lebhafter kommunizierten. «Die kleinen, nicht die grossen Unterschiede erklären die unterschiedlichen Fallzahlen in der Deutsch- und Westschweiz», ist sich Politologe Hermann sicher. Der Walliser Peter Bodenmann beobachtet in Brig mit Blick nach Martigny dasselbe Phänomen. Tatsächlich wird im Wallis nach wie vor bei der Begrüssung geküsst. Bodenmann bringt das Sozialverhalten und die Mortalitätsrate in einer mathematischen Formel zusammen. Sie lautet: «Aus der Anzahl der Kontakte, geteilt durch die durchschnittliche Nähe pro Kontakt, ergibt sich der Todesküsschenfaktor.» So einfach ist das.