Grosser Artikel über Mark Streit heute im "Der Bund":

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Die Eishockeystadt zu Streits Füssen

Der Stadtberner Mark Streit hat sich in Montreal zu einem der besten NHL-Verteidiger entwickelt


Mark Streit sitzt hinter seinem Pappbecher auf einem der braunen Kunstledersessel im Second-Cup-Café an der Rue Stanley, Ecke St-Catherine, und strahlt Zufriedenheit aus. «Ich geniesse es, hier zu sein», sagt er. «Montreal ist eine fantastische Stadt und für einen Eishockeyspieler das Nonplusultra. Ich bin in einem Team, das gewinnt. So etwas erlebt nicht jeder Sportler.» Streits mittlerweile zweieinhalbjährige Affäre mit der Welthauptstadt des Eishockeys hat sich zu einer grossen Liebe entwickelt. Einer, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruht.

Der Stadtberner wohnt mit seiner kanadischen Freundin Stéphanie nur ein paar Schritte weiter nördlich an derselben Strasse, die den Namen von Lord Stanley trägt, dem einstigen Gouverneur von Kanada und Stifter der wichtigsten Eishockeytrophäe. Vom Café aus führt sie nur zwei Blocks weiter südlich direkt zum Centre Bell. Dorthin geht Streit an jedem gewöhnlichen Tag zu Fuss zur Arbeit. Dort den Stanley-Cup zu gewinnen wäre wohl das Aussergewöhnlichste, was er als Eishockeyprofi erleben könnte.

Seit dem Umzug vom legendären Forum ins neue Stadion vor zwölf Jahren konnte der NHL-Rekordmeister keinen Titel mehr feiern. Doch jetzt, ein Jahr vor dem 100.Geburtstag des Klubs, glauben viele wieder daran. Die Canadiens spielen in diesen Tagen um Platz 1 in der Eastern Conference. Wenn sie in der Nacht auf heute oder im morgigen Duell gegen den aktuellen Leader Ottawa die Spitze erreichen würden, stünden sie zum ersten Mal seit 1993 so spät in der Saison ganz oben. Und in jenem Jahr gewannen sie auch den Cup zum 24. und bisher letzten Mal. Montreals Hoffnung auf eine neue Generation der «Glorieux» ist mit einigen Namen verbunden. Einer davon ist Mark Streit.

Der Schweizer gehört zu den Lieblingen des fachkundigen Publikums und erhält in den zahlreichen Fachmedien der frankokanadischen Metropole viel Lob. «Indispensible», unverzichtbar, ist das meistgehörte Wort, wenn man Montrealer nach Mark Streit fragt. Wie sehr sich der frühere ZSC-Captain ins Herz der eishockeyverrückten Stadt gespielt hat, zeigt sich jeweils am tosenden Beifall, den er bei der Vorstellung der Spieler in der Heimarena erhält. «Es gibt sicher Städte, wo es leichter ist, sich durchzusetzen», sagt Streit nicht ohne Stolz. Seine Einsatzbereitschaft und seine Vielseitigkeit werden geschätzt. Dass er Französisch spricht, wird ebenfalls geschätzt. Und vor allem wird geschätzt, dass er von der blauen Linie aus das beste Powerplay der NHL steuert.

Wie überall in Nordamerika glaubt man auch in Montreal an Statistiken, und diejenigen von Streit sind beeindruckend: Mit 38 Skorerpunkten hat er nach erst 54 Spielen sein letztjähriges Total bereits übertroffen. Nach Punkten und nach Powerplaytoren (6) ist er die Nummer 5 aller Verteidiger, nach spielentscheidenden Treffern (3) gar die Nummer 2. Zwar bestritt Streit auch diese Saison etwa ein Dutzend Partien als Stürmer, aber er bekam auch rund 5 bis 10 Minuten weniger Eiszeit pro Spiel als alle anderen Verteidiger mit ähnlichen Skorerwerten. Headcoach Guy Carbonneau achtet darauf, seine Spieler nicht zu stark zu forcieren.

Seine konstanten Leistungen haben auch Streits Rolle in der Mannschaft verändert. «Meine Meinung ist jetzt gefragter, und ich sage sie auch öfter», erzählt er. Streit hatte sich zum Ziel gesetzt, sich in seiner bevorzugten Rolle als Verteidiger zu etablieren und im Team eine Leaderrolle zu übernehmen. Beides hat er erreicht. «Ich habe immer an mich geglaubt», sagt er auf die Frage, ob er sich manchmal selbst über seine Entwicklung wundere. «Klar stösst man auch an Grenzen. Aber solange man sich verbessern will, kann man sich verbessern.»

Dass er im Alter von 30 Jahren einen solchen Schritt machen konnte, hat für Streit eine gewisse Logik. «Einerseits macht die Erfahrung in der NHL sehr viel aus. Das Stellungsspiel ist hier viel wichtiger als auf den grossen Eisfeldern, und ich kenne jetzt ein paar Abkürzungen auf dem Eis. Andererseits ist es für mich bezüglich des Energiehaushaltes ein Vorteil, noch nicht so lange hier zu sein. Die NHL geht an die Substanz, da macht es einen Unterschied, ob man erst zwei oder schon sieben Jahre hinter sich hat.» Kaum jemand in Montreal hatte ihm zugetraut, in diese Dimension vorzustossen. Und in der Schweiz, wo man sich daran gewöhnt hat, dass höher eingeschätzte Talente wie Michel Riesen, Luca Cereda oder Reto von Arx mehr oder weniger unverrichteter Dinge heimkehren, schon gar nicht. Viele glauben, dass Schweizer Feldspieler in Nordamerika einen schlechten Ruf und es deshalb besonders schwer haben. Streit nicht. «Das ist doch eine Ausrede», sagt er. «Es ist kein Nachteil, Schweizer zu sein.»

In einer Beziehung bewegt sich Streit aber immer noch auf tiefem Niveau. Mit einem Jahresgehalt von 600000 US-Dollar liegt er nur knapp über dem vorgeschriebenen Mindestlohn (475000) und bei rund einem Zehntel dessen, was die vier Verteidiger verdienen, die in der Skorerliste vor ihm liegen. Red Fisher, die 81-jährige Reporterlegende von der «Montreal Gazette», sagt deshalb: «Streit ist vielleicht das grösste Schnäppchen der ganzen Liga.» Das dürfte sich bald ändern. Streits Vertrag läuft Ende Saison aus, und er wird im Sommer ein sogenannter Free Agent.

Streit kann sich dann frei unter neuen Vertragsangeboten entscheiden. Er wird ein gefragter Spieler sein und in einer ausgezeichneten Verhandlungsposition. «Wenn er 2 Millionen bekommt, hat sein Agent einen schlechten Job gemacht», sagt Fisher. In die höchste Gehaltsklasse dürfte es ihm angesichts seines fortgeschrittenen Alters und der geringen NHL-Erfahrung nicht reichen. Ein Vertrag über drei bis vier Jahre mit einem Lohn von 2,5 bis 3,5 Millionen ist aber durchaus realistisch. Das sind schöne Perspektiven für Streit.

Trotzdem will er die vielleicht einmalige Chance nicht nutzen, um sich dem Meistbietenden zu verkaufen. «Montreal hat für mich klare Priorität», sagt er. Bis Juli dürfen ihm nur die Canadiens Angebote machen. Das werden sie wohl nach dem Saisonende tun. Und Streit wird Montreal wohl treu bleiben. Um der Liebe willen.

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Quelle: Der Bund 8.2.2008