Buch Jáchymov: Von Davos ins Todeslager

18.03.12 - Von Martin Merk

Der Roman Jáchymov des österreichischen Schriftstellers Josef Haslinger erzählt die Tragödie der tschechoslowakischen Nationalmannschaft zu Beginn der kommunistischen Ära in der Nachkriegszeit anhand eines deren Aushängeschilder, dem Weltklasse-Torhüter Bohumil Modry. Eine Familietragödie nach wahren Gegebenheiten um einen starken Sportler, der wegen Hochverats verurteilt und dessen Körper von der Strahlung in einem Uranbergwerk schleichend vernichtet wurde. Eine Vernichtung, die ein einschüchterndes Zeichen der kommunistischen Regierung die Aufmüpfigen in der Bevölkerung senden sollte.

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Als Blanka Modra im vergangenen Mai in Bratislava die Auszeichnung für ihren verstorbenen Vater zur Aufnahme in die IIHF-Ruhmeshalle (Hall of Fame) entgegennahm, kam die alte Geschichte über die 1950 wegen Landesverrat vom kommunistischen Regime ausgeschalteten Nationalmannschaft wieder ans Licht. Zu dieser Zeit war Haslinger, ein österreichischer Buchautor und Literaturprofessor in Leipzig, bereits am Verfassen einer romanartigen Biographie über Modry.

Erzählt wird die Geschichte durch ein fiktives Aufeinandertreffen der Neuzeit. Ein kranker Verleger sucht in einem Radon-Kurhotel von Jáchymov Heilung, während eine Tänzerin im selben Ort der Tragödie ihres Vaters auf der Spur ist. Bei der Dame handelt es sich um Modra, die heute als Theaterschauspielerin und Tänzerin in Wien tätig ist und im richtigen Leben so vor über 20 Jahren Bekanntschaft mit dem Autor schloss.

"Jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben, kam das Gespräch auf ihren Vater. Da habe ich gemerkt, wie sehr das ihr Lebensgepäck ist, das sie in die Emigration mitgenommen hat", sagt Haslinger gegenüber hockeyfans.ch. "Später habe ich begonnen, ihr gezielt Fragen zu stellen und auch selber in der Sache zu recherchieren. Das hat ungefähr zwei Jahre gedauert. Ich habe mich sogar zu einer Schnupperkur in Jáchymov entschlossen."

Modra erzählte ihr auch als sie im Herbst 2010 davon erfuhr, dass ihr Vater von der IIHF geehrt würde. "Sie hat sich darüber sehr gefreut. Und für mich war es ein glücklicher Zufall", sagt Haslinger. "Denn ich hatte ja schon den Eindruck, über einen Eishockeyspieler zu schreiben, den bei uns überhaupt niemand kennt. Oder niemand mehr kennt. Jetzt erscheint bei meinen Lesungen der eine oder andere alte Mann, der mir erzählt, dass er selbst einmal Eishockey gespielt hat und Bohumil Modry bei internationalen Turnieren kennengelernt hat."

Modra erzählte Haslinger von der Familiengeschichte. Von ihres Vaters Aufstieg zu einem der besten Torhütern Europas, der nebenbei studierter Ingenieur war, beginnend in den 30er-Jahren. Auch der HC Davos, der ihn haben wollte, wird erwähnt, der Spengler Cup, die WM 1939 in Basel und Zürich, die Olympiade 1948 in St. Moritz. Es wird von der schrecklichen Zeit unter der Besatzung der Nazis in der Tschechoslowakei erzählt. Modry konnte nicht mehr studieren, eishockey-technisch war seine Heimat von der Aussenwelt abgeschnitten. Er kombinierte sein bisheriges Ingenieur-Studium, um Torwart-Techniken zu studieren und entwickeln. Denn 1945 begann das Land wieder als eigenständiger Staat zu existieren und er konnte gestärkt auf internationale Parkett zurück. Oder quasi-eigenständig, wie er auch selbst mitbekam. Denn die Kommunisten ergriffen die Macht, das Land wurde wie auch andere in der Region zu einem Satellitenstaat der Sowjets.

Als damals beste Eishockeymannschaft im kommunistischen Raum wurden die Tschechoslowaken 1948 nach Moskau berufen anstelle einer geplanten USA-Tour. Dort wurde der Grundstein für ein Eishockeyprogramm gelegt, das später die Eishockeywelt dominieren sollte und nur sechs Jahre nach ihrem Start mit dem WM-Titelgewinn sein Debüt gab und Kanada schockte. Russische Bandyspieler kamen 1948 zusammen sowie Eishockeyspieler aus den baltischen Staaten wie Lettland, wo bereits vor dem Krieg und der "Eingliederung" in die Sowjetunion Eishockey-Nationalteams existierten. Es war die Grundsteinlegung der sowjetischen Nationalmannschaft, welche von den tschechoslowakischen Spielern "Bruderhilfe" erhalten sollten. Die Tschechen und Slowaken sollten ihnen die Techniken dss "kanadischen Hockeys" näherbringen und wurden bei den Drills von morgens bis abends gefilmt, weiss Modra zu berichten. Noch während des gemeinsamen Trainingslager hatten die Sowjets die Ausrüstungen der Gäste untersucht und innert weniger Tagen Kopien angefertigt. Modry lernte die spätere Trainerlegende Anatoli Tarasow kennen. Eine Beziehung, die ihn später möglicherweise von der Hinrichtung retten sollte.

Die Wende vom Helden der kommunistischen Sportpropaganda zum Landesverräter (Modry wurde nach seinem Tod rehabilitiert) folgte für Modry und seine Teamkollegen nach einem Ereignis beim Spengler Cup 1948 in Davos. Exil-Tschechen wollten die Landflucht der Mannschaft organisieren und diese als Profimannschaft in England touren lassen. In einer Abstimmung entschied sich die Mannschaft gegen die Flucht in den Westen. Weniger aus Überzeugung des Regimes, gegenüber welchem die Hockeyaner kritisch eingestellt waren, als wegen der zu befürchtenden Konsequenzen für ihre Familien. Modry selbst wurde vom Regime nach dem Gewinn des Weltmeistertitels 1949 in Stockholm versprochen, er dürfe das Angebot einer Profimannschaft aus Ottawa annehmen, durfte dann das Land aber nicht verlassen und trat aus der Nationalmannschaft zurück.

1948 erlitt die Mannschaft ein Schicksal, als sechs ihrer Spieler in einem Flugzeug nach London im Ärmelkanal abstürtzen. Die Tour wurde nach einem 5:3-Sieg gegen Grossbritannien ohne die vermissten Spieler abgebrochen. Die Kommunisten glaubten, die Spieler wollten fliehen und bekamen in ihren späteren Untersuchungen auch Wind von den Treffen in Davos, von Modrys Kontakt mit nordamerikanischen Diplomaten und letztlich wurde die Reise zur Weltmeisterschaft 1950 in London am Prager Flughafen abgesagt. Die Spieler kehrten in ihrer Prager Stammkneipe ein und sangen regierungsfeindliche Parolen, als Staatsschützer reinkamen und angepackt wurde. Die Spieler wurden innert kürzester Zeit von den bereitstehenden Polizisten verhaftet. Weil sie sich der Neuerscheinung der Unterwürfigkeit nicht anpassen wollten, glaubten die einen Spieler, weil die Sowjets einen Konkurrenten von der Weltspitze weghaben wollten, glaubten andere.

Nach mit Foltervorwürfen gemachten Aussagen der Verhafteten wurde Modry als Rädelsführer ausgemacht. Er wurde elf Tage nach den anderen verhaftet. Insgesamt elf Spieler sowie der Kneipenwirt wurden verurteilt. Modry erhielt wegen Hochverrats und antisowjetischem Verhaltens die härteste Strafe: 15 Jahre. Seine aus Solothurn stammende Ehefrau und die Kinder durften ihn lange gar nicht sehen. Im Gefängnis war Terror durch die Wächter an der Tagesordnung. Modry wurde letztendlich in ein Arbeitslager deportiert. Der einstige Torhüterstar wurde vom Helden zum Verbrecher gemacht. Seine Frau, Kinder und Verwandten wurden durch die Ächtung das Leben in Alltag, bei der Stellensuche und Schule schwer gemacht. Die Spielerfrauen halfen sich gegenseitig, verständigten sich in Zeichensprache, um Probleme für sich und ihre inhaftierten Männern zu vermeiden.

Die Wortwahl im Arbeitslager liess nichts Gutes erahnen. Der Appellplatz las sich auf tschechisch "Apel Plac", beim Eingang stand auf tschechisch "praci ke svobode", oder zu Deutsch: "durch Arbeit zur Freiheit".

"Als hätten sie die Pläne von den Nazis übernommen", beschrieb Modra den Aufbau und die Organisation. In einem Zitat im Buch der tschechischen Schriftstellerin Radka Denemarkova wird das Regime wie folgt beschrieben: "Sie haben sich von der Räudigkeit der Nazis anstecken lassen, ohne sich dessen bewusst zu sein." Widerspenstige Sportler, Philosophen, Schriftsteller und Priester wurden von den Kommunisten in Lager gebracht. Und Deutsche.

In einem der geheimen Bergwerke bei Jáchymov musste Modry wie auch Tausende von anderen Gefangenen mit blossen Händen Uranerz abbauen, um den Hunger von Moskaus Atomprogramm zu stillen. Völlig ungeschützt von der Strahlung und vom radioaktiven Staub. Dies war Modrys Todesurteil. Das wusste er selbst, denn unter den Mithäftlingen gab es genug Studierte, die erahnen konnten, was die Strahlung mit ihnen anrichten würde. Nach fünf Jahren wurde Modry todkrank amnestiert und lebte einen schleichenden Tod. Mit Eishockey hatte er nichts zu tun. Als die Sowjetunion 1959 in Prag die Weltmeisterschaften spielte in seinem alten Heimstadion auf einer Moldauinsel und die Tschechoslowakei 4:3 besiegte, war er als Zuschauer auf Einladung Tarasows auf der sowjetischen Ehrentribüne. Der tschechoslowakische Verband hatte ihn gemieden wie der Teufel das Weihwasser und blieb auch dem von "unendlich vielen" Menschen besuchten Begräbnis fern. 1963 starb Modry im Alter von 47 Jahren an den Folgen der Verstrahlung.

Für Haslinger war es speziell, zum diesem traurigen Thema und auch über Eishockey zu schreiben. In Österreich verfolgte er zwar die Weltmeisterschaften am Fernseher als Kind, doch so richtig wurde er durch das Buch mit der Sportart verbunden. Er ging zu Spielen der Vienna Captials. Zuerst war er nur nahe am Spielfeld in der Nähe der Torhüter, um diese zu studieren. Doch es enstand eine Leidenschaft. "Man kann nicht cool zuschauen und nichts spüren", sagt er. Er ging daher später zur Tribünenmitte und sass weiter hinten. "Von dort kann man die Spielzüge am besten überblicken. Das Ganze geht ja wahnsinnig schnell. Durch die erlaubten Bodychecks schaut das Spiel rabaukenhaft aus, aber in Wirklichkeit verlangt Eishockey eine grosse Präzision. Der Spieler braucht ein unglaublich genaues Auge, das nicht nur den Puck, sondern auch die Positionswechsel der anderen im Blick hat, und er muss blitzschnell reagieren können."

Das Buch Jáchymov erzählt über 271 Seiten in einer romanhaften Biographie basierend auf den Erzählungen seiner Tochter Blanka Modra, Aussagen von ehemaligen Teamkollegen ihres Vaters und Mithäftlichen sowie den später von Modra erforschten Prozessakten von der Tragödie. Modra selbst hatte von ihrem Vater nichts erfahren, da seine Haft ein Tabuthema war. Bloss als die Kinder beim Essen einmal Mätzchen machten, sagte er: "Wir haben mit den Fingern Brösel vom Boden aufgehoben." Doch das traurige Schicksal um ihren Vater liess sie nie los und brachte sie auf Spurensuche.

Jáchymov ist kein gewöhnliches Eishockeybuch, gibt jedoch tiefe Einblicke in ein dunkles Kapitel der Welt- und Sportgeschichte, die uns westlich des einstigen Eisernen Vorhangs trotz der zwei Schweizer Verknüpfungen in der Geschichte in dieser Form verborgen blieb, und ins Innenleben einer betroffenen Familie. Das Buch ist in der deutschen Originalfassung erschienen und bei uns zu günstigeren Konditionen als bei den meisten Buchläden bestellbar. Eine tschechische Übersetzung des Buchs ist in Planung.

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