Zwischen «Physiker» & «Tunnel» – Ambrìs Saison wird spannend
Bald setzt sich der Zug des HC Ambrì-Piotta wieder in Bewegung – zusammen mit den 13 weiteren Teams der Liga. Wie in Dürrenmatts «Tunnel» sind die Wagen gefüllt, doch in ihnen tummeln sich die verschiedensten Figuren aus dem Sanatorium, wie im Theaterstück «Die Physiker». Vielschichtig, zwischen Genialität, Chaos und Versuchsanordnung, wanken die Spieler in den Waggons hin und her. Ein Chaos, in dem allein Luca Cereda die Übersicht bewahrt. Oder doch nicht?
Bereits im Tor wartet der Klub aus der Leventina mit einer Neuerung auf. Vom SC Bern hat man sich den begabten, aber in einer Sackgasse steckenden Torhüter Philip Wüthrich geholt. Wird er in Ambrì endlich zur Nummer eins reifen und den erfahrenen Gilles Senn verdrängen? Wüthrich will sicher nicht ein weiteres Jahr nur als Assistent in der Lokomotive verbleiben, um Newton – Entschuldigung, Senn – dabei zuzusehen, wie er den Zug führt. Dieser ist Realist genug, um zu erkennen, dass er in Wüthrich einen Herausforderer hat. Denn der Ex-Berner besitzt die Qualitäten, sich durchzubeissen. Wenn aber beide wanken? Dann wankt wohl das gesamte Konstrukt. Findet Luca Cereda die genaue Dosis, um das «Experiment» erfolgreich zu führen?
In der Verteidigung wird Ambrì von den beiden «Schienenlegern» Tim Heed und Jesse Virtanen angeführt. Mit viel Routine und Erfahrung halten sie den Zug Ambrì am Rollen und auf den Schienen. Beide können sowohl physisch wie auch spielerisch überzeugen und mit einem schnellen Zuspiel in die Spitze das Spiel öffnen. Dazu gesellen sich die schweren Wagen, gefüllt mit aggressivem Backchecking und einer Prise Biss: Jesse Zgraggen und die Gebrüder Dotti. Diese drei sind nicht nur Abräumer, sondern auch für das Spiel von Ambrì unverzichtbar. Stocken auch sie, droht der gesamte Zug mit den Physikern in den hinteren Wagen nach der Verteidigung zu entgleisen.
Der Sturm wird von Chris DiDomenico angeführt. Am besten ist der Kanadier mit dem Exzentriker Möbius aus Dürrenmatts «Die Physiker» zu vergleichen: genial im Spielaufbau, immer auf der scharfen Kante zwischen Genie und Wahnsinn. Mal explodiert er, schiesst Tor um Tor, um im nächsten Augenblick im Unsichtbaren eines trägen Flusses zu verschwinden – oder durch unnötige Strafen sein Team zu schwächen. Auch Michael Joly trägt diese Eigenschaften in sich. Doch anders als DiDomenico ist er eher der Erfinder genialer, schneller Pässe, die der Gegner kaum lesen oder unterbinden kann. Wie Einstein ist er mehr Genie als Vollstrecker, mehr Wahnsinn als Struktur im Aufbau. Genau diese beiden Komponenten, DiDomenico und Joly, können die Leventiner zu einem der unberechenbarsten Teams dieser Saison machen – sei es nach hinten in der Tabelle oder nach vorne.
Für die anderen Spieler heisst das: Absicherung nach hinten. Wobei – wie sollen sie das vollenden, wenn auch sie fast dieselben Gene im Blut haben wie die beiden Kanadier? Dominic Zwerger, Nicolas Petan und Chris Tierney können ebenso nach vorne mit Tempo, Technik und viel Leidenschaft agieren – oder alles ins Chaos stürzen. Jedoch, und das ist ihnen zugutezuhalten, verstehen sie auch Defensive. Aber nur an guten Tagen. Wenn sie einen schlechten, sprich zu offensiven Tag erwischen, wird es für Ambrì schwer, ein Spiel im Rückstand noch zu drehen.
Gut, dass die Leventiner auch über Spieler verfügen, die defensiv absichern können. Diego Kostner, André Heim, Tommaso Madaschi und Inti Pestoni. Inti Pestoni als defensive Absicherung? Das mag viele erstaunen, doch in der Vergangenheit hat Pestoni eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Nach seinen Wanderjahren in Zürich und Bern blühte er zu Hause in der Leventina wieder auf. Der lokale Held kennt jede Kurve im Tunnel des Gebildes Ambrì. Mit viel Herzblut und Leidenschaft schliesst er genau die Lücke zwischen Offensive und Defensive. Er ist nicht mehr der Schillerfalter, der er einmal war – auch dank seiner Lehrjahre in der Fremde.
Und dann hat Luca Cereda noch viele junge Spieler im Kader, die in anderen Teams keinen Platz gefunden hätten. Mit Miles Müller, Tim Muggli, Manix Landry und Tommaso De Luca stehen Akteure im Aufgebot, die sich defensiv zerreissen werden, um offensiv zu ihren Chancen zu kommen. Damit wollen sie sich nicht nur in die Notizblöcke der Scouts (Muggli, Müller) oder der Nationalmannschaft (Madaschi) spielen. Wirklich ein «Bundes-Kader», das Ambrì in dieser Saison aufstellt.
Und was kann Luca Cereda tun? Nun, er kann wie Frau Dr. Zahn in «Die Physiker» versuchen, Ordnung zu schaffen. Dabei muss er indes aufpassen, dass er nicht – während um ihn Genie und Wahnsinn toben – die Übersicht verliert. Dass er dies kann, hat er genügend bewiesen. Dafür lieben ihn die Fans umso mehr. Wenn sie nach der langen Zug- oder Autofahrt aus dem Gotthard kommen, sehen sie das Licht ihrer Helden grell scheinen.
Es scheint, als bleibe Ambrì eine Versuchsanordnung im (Gotthard-)Tunnel: Senn als Newton im Tor, Joly und DiDomenico als verrückte Genies vorne, Pestoni als Herz der Leventina. Cereda versucht, das Chaos zu bändigen – doch wie bei Dürrenmatt ist nie klar, wer hier wen kontrolliert.
Die Frage bleibt: rast Ambrì ins Licht der Playoffs – oder verschwindet der Zug im Dunkeln? Sicher ist nur: In der Valascia-Nachfolgehalle wird es wieder ein Stück voller Leidenschaft, Genie und Wahnsinn geben.
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