Eishockey Weltmeisterschaft 2004
in Prag und Ostrava (Tschechien)

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Hintergrund
Lettland


Die Kehrseite der Unabhänigkeit

Von Martin Merk

Die Schweizer Nationalmannschaft trifft gegen Lettland wieder einmal auf ein wegweisendes WM-Spiel. Die Bilanz ist bislang klar: In vier Spielen an A-Weltmeisterschaften resultierten vier Schweizer Siege, jeweils mit zwei bis drei Toren Differenz. Vieles ist bei den Letten gleich geblieben: Ihre Stars sind altbekannt, der Nachwuchs hat Mühe und die Fans feuern ihre Lieblinge unbekümmert davon an wie kaum eine andere Fangruppe. Mit den bisherigen WM-Resultaten machen sich die Letten Hoffnungen auf die erste Viertelfinal-Qualifikation seit vier Jahren.

Seit 1991, dem Ende der Sowjetunion, ist Lettland wie die anderen baltischen Staaten Litauen und Estland wieder unabhängig. So wie nach dem Ersten Weltkrieg bis 1940 zum Übergang zur Sowjetunion. Während dem WM-Spiel gegen die Schweiz findet sogar ein "Blockwechsel" statt, Lettland wird in die europäische Union aufgenommen. Mit 2,3 Millionen Einwohnern ist Lettland eher ein wenig bevölkertes EU-Mitglied, mit einem Bruttosozialprodukt von 4090 Franken (Schweiz: 48'350) eines der ärmsten. Die Hauptstadt Riga mit ihren 700'000 Einwohnern bildet damit ein gewichtiges Zentrum - auch im Eishockey zusammen mit der zweitgrössten Statt Liepaja. Lettland ist damit die kleinste WM-Nation und doch fahren jedes Jahr lettische Fans zu Tausenden an die WM und sorgen für vorbildliche Stimmung. Und trotzdem ist man überhaupt dabei - zum achten und nicht letzten Mal in Serie. Dank einem Sieg über Kasachstan und einem Unentschieden gegen Deutschland hat man die Zwischenrunde als Zweiter erreicht und gezeigt, was möglich ist.

Was haben die Spieler Sandis Ozolinsh, Harijs Vitolinsh, Artus Irbe, Sergejs Naumovs, Viktors Igantjevs, Normunds Sejejs, Aigars Cipruss, Vjaceslavs Fanduls, Grigorijs Pantelejevs und Sergejs Zoltoks gemeinsam? Sie sind nicht nur lettische Internationale sondern spielten bereits beim Zerfall der UdSSR für Dinamo Riga in der sowjetischen Liga. An dieser WM fehlen einzig die ersteren beiden. Ozolinsh, der NHL-Spieler mit Carolina, sagte wegen einer Verletzung ab, der Thurgau-Stürmer Vitolish ist mit seinen 36 Jahren nicht mehr der Jüngste und versucht sich als Co-Kommentator beim lettischen Fernsehen. 13 turbulente Jahre sind seither vergangen und noch immer spielt man im selben Team. War 1993 beim internationalen Debüt an der C-WM mit dem Aufstieg ebenso dabei wie beim Aufstieg in die A-Gruppe drei Jahre danach. In Lettland ist man froh, von der russichen Herrschaft befreit zu sein. Eigenkreativität und die lettische Sprache in lateinischer Schrift statt russisch dominieren. Während der Unterdrückung widmete man sich als Ausflucht oft der Kunst oder auch dem Sport. Dinamo Riga war zwar kein Top-Club - denn in der Geschichte der UdSSR stammten die Meister ausschliesslich aus Moskau. Doch man klassierte sich bis zum Austritt der nicht-russischen Teams aus der russischen Liga meist im vorderen Mittelfeld bis zum dritten Rang, war jeweils der beste Club ausserhalb des heutigen Russlands in der UdSSR, vor Teams aus der Ukraine, Weissrussland oder Kasachstan etwa.

Die damalige Sowjet-Liga vor ihrer Öffnung Richtung Westen garantierte Spiele und Spielpraxis auf höchsten Niveau und war vom sportlichen Gehalt nicht weit von der NHL entfernt. Der Zwang zum Spielen im eigenen Lande und ein bisschen Lokalpatriotismus bei den Letten machte es möglich. Nach 1991 änderte sich dies schlagartig. In einer Abwanderungswelle wechselten Spieler wie Ozolinsh oder Irbe nach Nordamerika, andere nach Westeuropa wie etwa Vitolinsh zu seinem langjährigen Club Chur und wiederum andere zu den Topclubs nach Moskau - wie einem halt die Gesinnung lag. Ähnlich erging es anderen Ex-Sowjet-Republiken. Jene ausländische gewordene Teams, die auch nach dem Zerfall noch in der russischen Liga spielten, verschwanden allmählich, übrig blieben eigene nationale Ligen von biederem Format. Im Continental-Cup etwa schaffte es noch kein lettischer Clubs wenigstens in die zweitletzte Runde - im Gegensatz zu Nationen in Reichweite wie Weissrussland, Italien oder Polen. Eine Liga auf semiprofessionellem Level ist natürlich keine gute Voraussetzung für eine erstklassige Nationalmannschaft. Kein Wunder spielen 19 Spieler vom WM-Kader im Ausland, davon 12 auch in erstklassigen Ligen. Etwa die beiden NHL-erfahrenen Spieler, der Torhüter Arturs Irbe (pendelte zwischen Carolina und der drittklassigen ECHL) und der Stürmer Sergejs Zoltoks (Nashville) oder Leonids Tambijevs, der beste Chur-Spieler der abgelaufenen Saison.

Doch die Spieler sind ja eigentlich altbekannt, hat sich am Stamm jahrelang nicht viel geändert, wie auch das sehr hohe Durchschnittsalter von 29,94 Jahren verrät. Junge, starke Spieler? Man könnte mit Krisjanis Redlihs (23, Albany) und Agris Saviels (22, Hershey) nur zwei nennen. Beide spielen immerhin in der Farmteamliga AHL, ohne dort jedoch zu den "Top-Shots" zu zählen. Der Blick auf die Junioren-Weltmeisterschaften zeigt, was man erwarten kann: Die Ränge der letzten Jahren gingen von Rang 14 bis Rang 21. Zuwenig für die Erstklassigkeit trotz Aufwärtstrend. Mittelfristig bewegen sich die Letten so in Richtung Abstiegskampf, denn nach Vitolinsh werden in den nächsten Jahren noch weitere Routiniers der alten Generation der Sowjet-Zeit zurücktreten. Und hierfür müssen sich die Letten etwas einfallen lassen, wie sie solche Abgänge kompensieren wollen. Nachwuchsförderung ist nötig, was in einem armen Land, wo die versprochene Halle für die WM 2006 immer noch unsicher ist, einfacher gesagt als getan ist. Immerhin hat man das Problem der schwachen Ligen innerhalb der Nachbarländer Russlands lösen können. Während aus Kasachstan die Nummer 1 Ust-Kamenogorsk mit Aufstiegsverbot in der zweithöchsten russischen Liga spielt, haben sich die Topsclubs aus Lettland, Litauen, der Ukraine und Weissrussland zusammengetan und tragen in 32 Runden die East European Hockey League (EEHL) aus. Der Andrang war nach drei Jahren derart gross, dass man mittlerweile in eine EEHL A und eine zweitklassige EEHL B unterteilen musste. Die lettischen Teams Liepajas Metalurgs, HK Riga 2000 und ASK Ogre blieben jedoch im "A" hinter ihre Kollegen aus Weissrussland und der Ukraine zurück Richtung Tabellenende. Die Wirkung des Zusammenschlusses auf die Nationalmannschaften muss sich erst noch weisen.

Doch aus Schweizer Sicht ist all dies am Samstag noch unbedeutend. Dann trifft das Team von Ralph Krueger noch auf die Altstars, von denen die meisten Gesichter aus den zehn Länderspielen in 10 Jahren bekannt sind. Neben Tambijevs, der in Chur den Clubführungen der Bündner sowie des Mitbesitzers Lugano für eine Vertragsverlängerung mehr als überzeugen konnte, sind mit Normunds Sejejs und Grigorijs Pantelejevs zwei weitere Nationalliga-erfahrene Spiele im Team, welche an der WM bereits mit Scorerpunkten auf sich aufmerksam machen konnten.



Kurzportrait
Torhüter:Artus Irbe (Carolina/NHL), Edgars Masalskis (Riga), Sergejs Naumovs (Cherepovets/RUS)
Verteidiger:Viktors Igantjevs (Spartak Moskau/RUS), Krisjanis Redlihs (Albany/AHL), Arvids Rekis (Augsburg/DEL), Agris Saviels (Hershey/AHL), Normunds Sejejs (Slovan Bratislava/SLK), Olegs Sorokins (Ässät Pori/FIN), Atvars Tribuncovs (Ufa/RUS)
Stürmer:Aigars Cipruss (Spartak Moskau/RUS), Vjaceslavs Fanduls (Ässät Pori/FIN), Aleksandrs Kercs (Nyköping/SWE2), Aleksandrs Macijevskis (Odense/DAN), Aleksandrs Nizivijs (Riga), Juris Ozols (Liepaja), Grigorijs Pantelejevs (Riga), Vadims Romanovskis (Asiago/ITA), Aleksandrs Semjonovs (Arboga/SWE2), Aleksejs Sirokovs (Cortina/ITA), Leonids Tambijevs (Chur/SUI2), Herberts Vasiljevs (Khabarovsk/RUS), Sergejs Zoltoks (Nashville/NHL)
Trainer:Curt Lindström, Assistenten: Aleksandrs Belavskis, Vitalijs Samoilovs
Testspiele:Kasachstan 2:4, Frankreich 5:2, Weissrussland 2:3, Polen 4:2, Norwegen 2:5, Dänemark 0:1, Ukraine 1:7, Dänemark 5:4, Dänemark 8:3, Norwegen 2:3, Frankreich 0:1, Slowakei 0:2, Slowakei 3:3, Japan 5:4, Japan 4:0