76. Spenglercup in Davos (26.12. - 31.12)

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Hintergrund
Team Canada


Team Canada: Eine Frage der Ehre

Wenn ein kanadischer Eishockeyprofi die Chance erhält, das Trikot mit dem Maple Leaf überzustreifen, dann hat er eines seiner Lebensziele erreicht. Jedes Jahr ist dieses Phänomen auch am Spengler Cup Davos zu beobachten, denn im Team Canada ist das Tragen des Ahornblatts eine Frage der Ehre.

Eishockey ist für die Kanadier nicht etwa nur der Nationalsport. Nein, es ist ein Stück Kultur und zugleich die Identifikation mit dem eigenen Empfinden, ein Kanadier zu sein. Und das hebt den Kanadier in Eishockeybelangen vom US-Amerikaner ab. Eine Niederlage im Eishockey ist in Kanada sowohl eine sportliche als auch eine nationale Demütigung. Sie wird gleichgesetzt mit der Vergewaltigung eines Kulturguts. So ist auch die grenzenlose Euphorie zu erklären, die in Kanada nach dem Olympiasieg in Salt Lake City herrschte. Und so ist auch erklärbar, weshalb Kanadier in Spielen für das Team Canada sowohl körperlich wie auch mental noch einen Gang höher schalten und oftmals über sich hinauswachsen.

Der Traum vom Nationalteam

Das jüngste Beispiel für die unbändige Anziehungskraft des rot-weissen Trikots mit dem Ahornblatt war die Entscheidung von ZSC-Stürmer-Star Jan Alston für das Team Canada und gegen die Schweizer Nationalmannschaft. "Ich habe die kanadische Mentalität und denke auch kanadisch. Und wenn man als kleiner Junge in Quebec aufwächst, gibt es zwei grosse Wünsche: NHL und Nationalteam", sagt der kanadisch-schweizerische Doppelbürger. Es sei das Grösste, was man als Profi-Eishockeyspieler anstreben könne. Und diesen Herzenswunsch wolle er sich erfüllen.

Solche Aussagen hört man immer wieder. Die Kanadier sehen es als eine sportliche und moralische Bürgerpflicht, sich für das Eishockeyland Kanada zu "zerreissen". Mit dem Ahornblatt auf der Brust wird kein Kanadier es jemals wagen, nur 99 Prozent Einsatz zu geben. Völlig egal, ob es nun um den Olympiasieg, einen WM-Erfolg oder um den Spengler Cup geht. Team Canada ist eine offizielle Auswahl des kanadischen Verbandes. Somit ist der Motivationsschub garantiert. Jan Alston: "Wir wissen, dass wir über gute Leistungen in den Auswahlen - sei es am Spengler Cup oder am Deutschland Cup - die Chance für eine WM-Teilnahme erhalten. Diese Gelegenheit ist zu verlockend, um sie nicht zu nutzen. Deshalb werden alle Kanadier am Spengler Cup Vollgas geben." Nicht zuletzt auch über das Davoser Turnier haben einige ehemalige NHL-Spieler den Sprung zurück in die NHL geschafft, zum Beispiel Fred Brathwaite, Wayne Primeau und Doug Lidster.

Nationalstolz als Erfolgsbasis
Die Geschichte des Eishockeys

Wann, wo und wie Eishockey entstand, ist nicht restlos geklärt. Seine Vorläufer - die Stockballspiele - sind uralt. Kanada gilt als Mutterland des Eishockeys. Einem 1632 erschienenen Buch ist zu entnehmen, dass schon die Indianer ein eishockeyähnliches Spiel betrieben. 1860 fanden in Kingston Harbour (Ontario) respektive 1875 im Victoria-Skating-Ring in Montreal die ersten Eishockeyspiele statt. 1893 stiftete der englische Gouverneur von Kanada, Lord Stanley, den bis heute begehrten Stanley-Cup.


In der Kanadischen Kabine sind auch sämtliche Differenzen zwischen Franco- und Anglokanadiern vergessen. Das gemeinsame Ziel und die Passion verbindet. Sébastien Bordeleau, Topskorer beim SC Bern und im November für Team Canada gegen die Schweiz im Einsatz: "Ich weiss nicht, wie oft man im beruflichen Leben eine Chance erhält, sich einen Traum zu erfüllen. Ich weiss nur, dass man besonders stolz auf sich sein kann, für ein Volk zu spielen, welches jenen Sport über alles liebt, den du als Beruf ausübst", sagt Bordeleau. Deshalb sei es nichts anderes als eine Frage der Ehre, für einen Sieg alles zu geben. Und Christian Dubé, heute ebenfalls beim SC Bern und vor einem Jahr in Diensten des Teams Canada am Spengler Cup, kennt es nicht anders: "Wir sind mit diesem aufgewachsen. Alles für den Sieg zu geben ist in unserem Selbstverständnis verankert."

Zu allen Erklärungen kommt noch der in den vergangenen Jahren arg gebeutelte kanadische Nationalstolz, der erst mit dem Olympiasieg in Salt Lake City wieder Auftrieb erhielt. Kein Wunder, hatte man doch mit Ausnahme des WM-Titels, der in Übersee aber keine sonderlich grosse Bedeutung geniesst, eher Pleiten auf sportlicher und wirtschaftlicher Ebene kassiert: Niederlage im Penaltyschiessen bei Olympia 1994 in Lillehammer, die Halbfinalniederlage (erneut im Penaltyschiessen) 1998 in Nagano, 1992 in Albertville ebenfalls eine Niederlage im Final gegen die damalige Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und die tief in die ahornbeblätterte Volksseele vorgestossene Niederlage im Final des World Cups gegen den Erzrivalen USA. In Kanada gilt eine Niederlage einer Hockey-Auswahl als gleich peinlich, wie in den USA die Niederlage einer amerikanischen Baseball-Auswahl gegen einen ausländischen Herausforderer.

Um die Bedeutung eines Einsatzes für Kanada auf höchstem Niveau zu unterstreichen, sei folgende Aussage des ehemals in Edmonton unter Vertrag stehenden US-Verteidigers Tom Poti vor dem Olympia-Finalspiel in Salt Lake City zitiert: "Wenn wir dieses Spiel gewinnen, werden unsere kanadischen Freunde nie mehr mit stolzem Haupt in die NHL-Eisarenen einfahren können. Unglaublich, unter welchem Druck sie spielen müssen. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken, denn für sie ist der Sieg Pflicht." Heute wissen wir: Kanada hielt dem Druck stand und wurde Olympiasieger - es war die richtige Antwort auf die Frage der Ehre.

Joël Wüthrich