WM 2001, Zwischenrundengruppe E, 9.Spieltag, Sonntag, 6. Mai 2001

 
 Russland Schweiz 
2:1 (0:1, 2:0, 0:0)
Zuschauer
Preussag-Arena, Hannover, 3118 Zuschauer.
Schiedsrichter
Mihalik (Slowakei),Garofalo,Hämäläinen (USA/Fi
Skorer
23. Karpow (Wischnewski, Jaschin) 1:1
40. (39:35) Jaschin (Datsjuk) 2:1
 Skorer
5. Riesen (Seger, Crameri) 0:1.
Strafen
2mal 2 Minuten
 Strafen
3mal 2 plus 5 Minuten (Julien Vauclair) plus Spieldauer (Julien Vauclair)
Aufstellung
Sokolow; Petroschinin, Orechowski; Wischnewski, Schdan; Jewstefejew, Schukow; Twerdowski, Krasotkin; Koroljuk, Jaschin, Karpow; Kuwaldin, Prokopjew, Charitonow; Kusnetsow, Datsjuk, But; Gusmanow, Razin, Golts
 Aufstellung
Martin Gerber; Olivier Keller, Streit; Julien Vauclair, Salis; Seger, Steinegger; Bezina, Patrick Sutter; Reichert, Martin Plüss, Conne; Della Rossa, Zeiter, Demuth; Riesen, Crameri, Jenni; Jeannin, Aeschlimann, Thomas Ziegler.
Bemerkungen
Bemerkungen: Schweiz ohne Weibel (Ersatz) und Bührer (überzählig). -- Pfostenschuss Petroschinin (30.). -- Timeout Schweiz (58:39). -- Powerplay: Russland 0/3; Schweiz 0/1. - Torschüsse: 37:29 (10:6 14:14 13:9). - Spieldauer: 2:11.

Bericht:
Quelle: nzz.ch


Réduit-Taktik ohne Erfolg

1:2 gegen Russland: Die Schweizer Eishockey-Auswahl an der WM ausgeschieden

Boris Michailow, der russische Headcoach, hatte die Lage seiner Mannschaft vor den abschliessenden Zwischenrunden-Spielen gegen die Schweiz und Deutschland mit einem Sprichwort aus seiner Heimat umschrieben: «Wer im Wald Pilze suchen will, darf keine Angst vor Wölfen haben.» Der Vergleich hinkte ein bisschen. Die Punkte lagen für die russische Equipe zwar durchaus wie Pilze auf dem Eis. Die Schweizer verhielten sich aber weder wie eifrige Pilzsucher noch wie hungrige Wölfe. Der Nachmittag nahm den (auf Grund der bisherigen Schweizer Leistungen) erwarteten Verlauf. Die Equipe von Krueger ging zwar zum vierten Mal im (fünften Spiel) 1:0 in Führung, wie in den Vergleichen mit Tschechien und Kanada konnte sie den Startvorteil aber nicht nutzen. Sie unterlag den Osteuropäern 1:2. Den Schweizer Treffer hatte Riesen in der 5. Minute erzielt. Damit ist die Selektion des SEHV schon vor ihrem letzten Zwischenrunden-Spiel (am Montag gegen Italien) aus dem Rennen um die Viertelfinalqualifikation ausgeschieden.

Krueger hatte sich vor der Partie zu sanften Änderungen durchgerungen. Die Stürmer Jeannin und Demuth sowie die Verteidiger Sutter und Vauclair tauschten die Plätze. Weit wichtiger als die Korrektur auf dem Matchblatt war die veränderte Taktik in der Schweizer Mannschaft. Gegen die technisch und läuferisch überlegenen Osteuropäer verhielt sich die Equipe nach einer ebenso einfachen wie logischen Vorgabe: Sie konzentrierte sich in erster Linie auf den «destruktiven» Part, zog sich jeweils schnell in die eigeneZone zurück, formierte sich in einem «Abwehrgürtel» um das Tor von Keeper Gerber und wartete auf Chancen zu Gegenstössen. Die Réduit- Taktik der Schweizer bestimmte die Richtung des Geschehens. Die Russen, mit fünf NHL-Spielern im Team, griffen an, kamen aber nur selten in den Slot und zu überraschend wenigen Torchancen. Fanden sie gleichwohl die Lücke im Schweizer Abwehrriegel, war Gerber zur Stelle.

Die Partie in der halbleeren Preussag-Arena war von einer merkwürdigen Atmosphäre umgeben. Weder auf den Rängen noch im Rinkspürte man etwas von einer Schweizer Mannschaft, die um ihre letzte Chance kämpft. Man gewann vielmehr den Eindruck, dass das Feuer in der Equipe nach den ernüchternden Resultaten der letzten Tage erloschen sei. Die Mannschaft offenbarte nicht ansatzweise eine Leidenschaft, wie sie im Vorjahr auf dem Weg zum 3:2-Sieg gegen den gleichen Widersacher in St. Petersburg zu spüren gewesen war. Dabei machte das sehr minimalistisch auftretende russische Team alles andere als einen unverwundbaren Eindruck. Vor allem im Mitteldrittel bot es den Schweizern überraschend grosse Angriffsfläche. Salis scheiterte in der 27. Minute aber ebenso wie späterZiegler, Jenni, Reichert und Della Rossa am unsicheren russischen Keeper Sokolow.

Bezeichnend für die wenig glückhafte Dienstreise der Schweizer Eishockey-Delegation nach Deutschland war die Tatsache, dass die Equipe gegen Russland ausgerechnet in jenem Drittel die beiden Gegentreffer zulassen musste, in dem sie ein Chancenplus besass und die Schussstatistik ausgeglichen halten konnte (14:14). Karpow lenkte in der 23. Minute einen Distanzschuss von Wischnewski zum Ausgleich an Gerber vorbei, Jaschin traf 26 Sekunden vor Drittelsende zum 2:1. Damit war der resultatmässige Schlusspunkt schon vor der zweiten Sirene gesetzt.

Wenn Krueger nach der Partie von einer starken Leistung seines Teams sprach, so konnte er nur die Phase zwischen der 26. und 40. Minute gemeint haben. Sonst kontrollierten die Russen das Geschehen ohne grössere Probleme. Für das Team von Michailow schien es in erster Linie darum zu gehen, die für die Viertelfinal-Qualifikation erforderlichen Punkte auf möglichst ökonomische Weise zu gewinnen. Am Vortag hatte die Mannschaft in einem hochklassigen Spiel gegen Tschechien 3:4 verloren.

Im Schlussdrittel probierte der Schweizer Trainer, nochmals mit einer personellen Rochade Einfluss aufs Spiel zu nehmen. Er brachte Zeiter nur noch in Unterzahl-Situationen. Zu einem Effort war die Mannschaft aber nicht mehr in der Lage. Die Reaktionen nach der Schlusssirene spiegelten das Befinden der Beteiligten ziemlich exakt: Krueger sprach, in der ihm eigenen Art, «von einer Niederlage, die uns weiterbringt», die russischen Journalisten verküssten Boris Michailow, und im deutschen Lager macht man sich ernsthaft Sorgen darüber, ob die Schweizer am Montag noch mit dem nötigen Engagement in ihr letztes Spiel gegen Italien steigen. Ein Sieg würde dem Heimteam den Weg in die Viertelfinals ebnen. In Deutschland steht die Schweizer Nationalmannschaft plötzlich wieder hoch im Kurs.

Selbstzerfleischung im russischen Verband

Falls Nationalmannschaften ein Spiegelbild der Gesellschaft sind, liefern die Russen das beste Beispiel dafür. Zu Zeiten der Sowjetunion befolgten die Pucksoldaten unterwürfig die Befehle des gestrengen Obersten Wiktor Tichonow. Sie spielten in jener Mannschaft, in die sie abkommandiert wurden, vorwiegend zum Armeeklub ZSKA Moskau, und wurden die meiste Zeit kaserniert. Die tausendfach eingeübten Spielzüge schlugen sich in serienmässigen Erfolgen auf internationalem Parkett nieder.

Mit der Perestroika öffnete sich das Tor zur Freiheit. Spitzenspieler nutzten sie zum Auswandern. Die Besten fanden ihr Glück in Übersee, doch nicht alle konnten sich durchsetzen. Der zeitweise auch vom ZSC beschäftigte «Tank» Krutow fand sich im Westen nicht zurecht;seine Kumpane Larionow oder Fetisow aus dem berühmten ersten Block brachten dagegen die Disziplinmit, um ihre Form auch den Sommer über ohne Antreiber zu halten. Im nationalen Verband versickerten nachder Öffnung die Transfergelder; 1997 wurde Verbandspräsident Walentin Sytsch wegen Geldangelegenheiten vor seiner Datscha regelrecht exekutiert (die Mörder wurden später gefasst). Sein Nachfolger Alexander Steblin bekundet Mühe, persönliche Interessen hintanzustellen und den Laden in Ordnung zu halten. Seit zehn Jahren ist es nie mehr gelungen, die bestmögliche Formation an ein Weltturnier zu schicken, seit 1993 fehlen WM-Medaillen in der Sammlung. Spieler wie Fedorow oder die Brüder Bure weigern sich, unter dem früheren Idol Boris Michailow zu spielen. Er ist in ihren Augen zu sehr mit der alten Nomenklatura verbandelt. Andere stellen sich höchstens zur Verfügung, wenn das Trainingslager nicht in Moskau stattfindet. Die Millionäre aus der NHL haben begründete Angst vor Erpressungen durch die russische Mafia.

Typisch für die Situation und die divergierenden Denkweisen ist das Seilziehen um das Olympiateam. Andere Verbände haben den Stab längst beisammen, in Moskau streitet man sich seit Monaten über die Funktion des Generalmanagers. Als solcher ist Slawa Fetisow vorgesehen, derzeit Trainerassistent bei den New Jersey Devils. Fetisow will, wie das in der NHL üblich ist, den Coach und die Spieler selber bestimmen. In Moskau sehen die Apparatschiks seine Funktion indes vor allem als die eines Botschafters, der für das Gefolge Tickets und Partys organisiertwie derzeit Steblin als «Mannschaftsleiter» in Hannover.

Die Selbstzerfleischung der Führung färbt auf die Auswahl ab. Wohl bringt Russland noch reihenweise grosse Talente heraus, was die guten Klassierungen an Nachwuchs-Weltmeisterschaften aller Altersklassen beweisen. Jahr für Jahr nehmen Russen in derNHL-Talentziehung Spitzenränge ein. Geld ist für Eishockey auch vorhanden; einige Eliteklubs zahlen ihren besten Kräften bis zu einer Viertelmillion pro JahrDollar, nicht Rubel. Doch die Anstrengungen auf den Rinks werden nicht richtig kanalisiert. Das zeigt sich auch in Hannover, wo der Eindruck überwiegt, die Russen spulten ein Pflichtpensum ab. Paradoxerweise erweist sich hier Captain Alexei Jaschin, in Ottawa alsEgoist verschrieen und künftig unerwünscht, als Bannerträger, der seiner Heimat etwas zurückgeben will.Seinem Beispiel sind nur vier weitere NHL-Professionals gefolgt.