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Die richtige Weltmeisterschaft?

Wenn man zu einer anderen beliebten Sportart in der Schweiz schaut, dem Fussball, so stellt sich die Frage "Welche ist die richtige oder beste Weltmeisterschaft?" nicht. Wieso auch, es braucht nur eine und dort sollen die stärksten Fussballnationen mit all ihren Stars dabei sein, die Crème de la Crème soll dem runden Leder hinterher. Im Eishockey dagegen stellt sich diese Frage sehr wohl aufgrund eines bald 100-jährigen Streites.


Von Martin Merk

Im Jahre 2008 feiern einige Verbände ihr 100-jähriges Jubiläum, darunter der IIHF und der SEHV. Der internationale Eishockeyverband wurde in Paris von europäischen Verbänden gegründet. Zu einer Zeit, in welcher im "Eishockey-Mutterland" Kanada bereits 22 Mal der Stanley-Cup in Montréal, Winnipeg, Ottawa und Kenora herumgereicht wurde. Eine Geschichte, welche man in Nordamerika bis heute nicht zu verkraften oder verziehen scheint. Zwar sind der kanadische und US-amerikanische Verband Mitglied geworden, doch deren Spitzenorgan die NHL ordnet sich weder ihnen noch dem Weltverband unter. Die vom IIHF organisierten Weltmeisterschaften waren lange nur Europameisterschaften mit Amateurspielern aus Kanada und den USA ergänzt. Die Profiliga NHL ignorierte internationale Wettkämpfe und selbst heute noch ordnet sie sich nicht dem IIHF unter wie die Ligen ausserhalb Nordamerikas und wie in nahezu allen Sportarten üblich. Mit der Zeit konnte man immerhin eine Partnerschaft zwischen dem IIHF und seinen Verbänden sowie der NHL erreichen, welche bislang (der Vertrag lief kürzlich aus...) etwa die NHL-Pause während den Olympischen Winterspielen 1998 und 2002 sicherte sowie das Transferwesen zwischen diesen Systemen regelte.

Wie die NHL die Aussenwelt entdeckte

Trotzdem schadete dieser immense Graben zwischen der europäischen und nordamerikanischen Eishockeywelt dem internationalen Eishockeygeschehen, dessen Hierarchiespitze bezüglich Spieler von der NHL kontrolliert wird. Bis in die 70-er-Jahren schien es den Nordamerikanern auch gar nicht zu interessieren, ob andere Eishockey-Nationen wirklich schlechter waren, sie "wussten" es einfach dogmatisch und dass die Sowjetunion diesen aus Amateuren bestehende kanadische Nationalmannschaften an den IIHF-Turnieren um die Ohren schlug, löste etwa den gleichen Wirbel aus wie ein gefällter Baum in den kanadischen Wäldern. Trotzdem begann man sich irgendwann die Frage zu stellen, wieviel besser man denn wirklich ist. Und so vereinbarte man zwischen Kanada und der Sowjetunion - der stärksten Eishockey-Nation ausserhalb Nordamerikas - vor NHL-Beginn 1972 einen Wettkampf. Und dies erstmals mit einer aus NHL-Profis bestehenden kanadischen Nationalmannschaft. Es war die bestmöglichste kanadische Nationalmannschaft mit allen NHL-Stars, nur die Topspieler der Konkurrenzliga WHA wurden natürlich ausgeschlossen. Es war jene Zeit, in der auch das Draft-System eingeführt wurde und Eishockey-Spieler aus Westeuropa öfters den Sprung in die NHL versuchten. Der angesprochene Vergleich bestand aus vier Spielen in vier kanadischen Städten gefolgt von vier weiteren Partien in Moskau. In der Presse jenseits des Atlantiks fragte man sich, ob sich die Kanadier mit 8:0 oder nur mit 7:1 durchsetzen würden... Zwei kanadische Topscouts wurden zur Spionage nach Moskau geschickt zur Beobachtung eines Freundschaftsspiels der Russen gegen ZSKA. Ihr Urteil? Die Russen könnten Eishockey spielen, seien aber in keiner Hinsicht besser als die Kanadier. Wenn die Kanadier ihr Potential ausschöpfen, gäbe es einen 8:0-Sweep.

Die Kanadier und Amerikaner wurden jedoch eines besseren belehrt. Nach den vier Spielen in Kanada stand es nach Punkten 5:3 für den roten Feind, für die Amateur-Eishockeysoldaten aus der Sowjetunion gegen die hochnäsige NHL-Prominenz. Als auch das erste Spiel in Moskau von dem Sowjet-Team gewonnen wurde, schien die Blamage perfekt. Doch die Kanadier rauften sich in ihrer Ehre zutiefst verletzt zusammen, kämpften mit allen fairen und weniger fairen Mitteln und gewannen die drei restlichen Spiele in Moskau. Nicht nur durch Dirty-Playing, auch durch beeindruckende Physis konnten sich die Kanadier steigern. "Als die Kanadier mit Härte innerhalb der Regeln spielten, zeigten die Kanadier ihr Können. In physischer Hinsicht hatten die sowjetischen Spieler noch viel von den Kanadiern zu lernen", urteilte der heutige Kloten-Trainer Wladimir Jursinow, damals als Journalist in Moskau beschäftigt. 34 Sekunden vor Spielende im achten Spiel entschied Paul Henderson von den Toronto Maple Leafs mit seinem Siegestreffer die Serie für Kanada vor 15'000 Zuschauern im Moskauer Luzhniki-Sportpalast. Eine Heldentat, welche Kanada vor der Staatstrauer und der vollendeten Blamage rettete. Die Kanadier gewannen nach Punkten mit 9:7 und 31:32 Toren. Doch nun war klar, dass man auch anderswo als in Nordamerika gutes Eishockey spielen kann und die Frage nach der besten Nation künftig auf dem Eis zu lösen ist - nicht in Phantasien. Die "Jahrhundert-Serie" von 1972 ist übrigens mit Radio- und TV-Ausschnitten dieser Zeit auf einer Website dokumentiert.

Vom Canada Cup zum World Cup

Zwei Jahre später im zweiten Acht-Spiele-Vergleich revanchierten sich Sowjet-Spieler und gewannen mit 11:5 Punkten und 32:27 Toren. 1976 wurde der Zweinationen-Vergleich durch ein Turnier mit sechs Mannschaften vor NHL-Saisonbeginn ersetzt - der Canada-Cup wurde erstmals in kanadischen und amerikanischen Eishallen ausgetragen und von Kanada gewonnen. Wie auch die Auflagen von 1984, 1987 und 1991. Nur 1981 setzte sich die Sowjetunion durch, ins Finale kamen in diesen Jahren auch die USA, die Tschechoslowakei und Schweden, der sechste Teilnehmer war jeweils Finnland (bis auf 1984 die Bundesrepublik Deutschland).
Ewige Rangliste Canada Cup / World Cup
Land1. Rang2. Rang3. Rang4. Rang
Kanada4300
Russland/UdSSR1121
USA1102
Schweden0122
Tschechoslowakei0111
Finnland0010


1991 wurde der Canada Cup letztmals vergeben und endete in eine weitere Expansion. Durch das kooperative Näherkommen der NHL und dem IIHF in den 90-er-Jahren konnte man sowohl die NHL-Pausen für Olympische Winterspiele ermöglichen wie auch die IIHF-Teilnahme an jenem als Canada Cup bekannten Turnier. So wurde 1996 das Turnier erstmals unter dem Namen "World Cup of Hockey" mit acht Mannschaften ausgetragen mit einer Vierergruppe in Nordamerika und einer in Europa. Die Mannschaften waren auch schnell gefunden: Als siebte kamen nach der Aufspaltung der Tschechoslowakei Tschechien und die Slowakei dazu, als achte lud man Deutschland wieder ein. Mit den USA erhielt das neue Turnier auch einen neuen Sieger, nun folgt der zweite "World Cup of Hockey". In Kanada (Toronto, Montréal) und den USA (St. Paul, Minnesota) wird die durch Russland und der Slowakei ergänzte Nordamerika-Gruppe ausgetragen, in Helsinki, Stockholm, Köln und Prag spielen Finnland, Schweden, Deutschland und Tschechien die Europa-Gruppe aus. Es folgen die Viertelfinalpartien, welche innerhalb der Gruppen gespielt werden, bevor im Halbfinale und Finale in Nordamerika erstmals die Gruppen gemischt werden. Ob das favorisierte Ahornblatt-Team aus Kanada sich revanchieren kann?

Wie die NHL sich eine Weltmeisterschaft vorstellt

Mit dem World Cup, zusammen mit den letzten beiden Olympischen Spielen das einzige grosse Länderturnier mit voller NHL-Beteiligung, zeigt die mächtige NHL den Europäern um den IIHF auch, wie sie sich in ihrer Mentalität eine Weltmeisterschaft vorstellt:

Auch die Schweiz ist vertreten
Spieler nach Arbeitgeberland
1.USA131
2.Kanada44
3.Deutschland19
4.Russland7
5.Schweiz4
.Tschechien4
7.Schweden2


Wer eine Liste mit acht Eishockey-Nationen aus nordamerikanischer Sicht und mit diesen Kriterien erstellt, dürfte auf dieselben acht Teilnehmer kommen. Sie erklärt auch, wieso die Schweiz kein Thema sein kann - kein Wunder bei nur zwei Torhütern als einzige Schweizer in der NHL. Trotz der vermeintlichen Unattraktivität ist aber auch die Schweiz anlässlich des Turniers vertreten und dies nicht einmal schlecht. Mit nackten Zahlen betrachtet stellt die Schweiz am fünftmeisten Spieler aller Länder: Die Finnen Ville Peltonen (Lugano), Mikko Eloranta (Rapperswil), Jukka Hentunen und der Slowake Richard Lintner (beide Fribourg) - die Streikgäste Joe Thornton (Boston/Davos) und Niklas Hagmann (Florida/Davos) nicht miteinberechnet. Lässt man die DEL weg, welche ausschliesslich durch den grössten Teil der deutschen Nationalmannschaft, welche mit 5 die geringste Anzahl an NHL-erfahrenen Spielern aufweist, in der Statistik auftaucht, wäre die Schweiz sogar auf Platz 4 allgemein beziehungsweise Rang 2 der europäischen Ligen. Nicht schlecht für eine Liga, die selbst vom IIHF europäisch nur als die siebtbeste Liga angesehen wird. Bezüglich Clubs fällt der Name Fribourg mit zwei Spielern auf. Lässt man auch hier die DEL-Teams weg, so wäre Fribourg auf Rang 27. Nur 25 der 30 NHL-Clubs trügen mehr zum Teilnehmerfeld bei sowie der russische Meister Avangard Omsk, falls er denn seine drei Spieler auch wirklich freigeben sollte. Spitzenreiter mit 11 Spielern sind Detroit, Philadelphia und Vancouver gefolgt von Colorado (10) und Ottawa (9).

Das Anschauen der Spiele lohnt sich somit auch für Schweizer Eishockey-Fans - nicht nur wegen den drei bis vier involvierten NLA-Clubs, welche für rund drei Wochen in der Vorbereitung auf die World-Cup-Spieler verzichten müssen. Die Crème de la Crème der weltbesten Liga, ergänzt durch einzelne Spieler europäischer Clubs, treffen in ihren Nationalteams aufeinander. Es ist möglicherweise das bestbesetzteste Länderturnier der kommenden Jahre, denn eine NHL-Teilnahme an den Olympischen Winterspielen 2006 ist fraglich. Und auch aus Sicht der NHL-Fans könnte es bereits der Höhepunkt des restlichen Jahres werden, denn der NHL-Start in diesem Herbst ist sehr ungewiss.

Das Eishockey mit Manko im internationalen Sportgeschehen

Und nun zurück zur Anfangsfrage: Welches ist die "wahre" Weltmeisterschaft? Jene vom Weltverband IIHF wie in anderen Sportarten oder dieser uns Schweizern so ferne World Cup? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man das Wort "beste" in diesem Zusammenhang kennt aus der Sicht des internationalen Eishockeys und dies kann keine Person oder Nation alleine definieren. Betrachtet man ausschliesslich die Spielstärke, so kann die Wahl nur auf den am 30. August beginnenden World Cup fallen. Doch gehören nicht auch Überraschungen von Aussenseitern dazu wie der vierte Rang Weissrusslands an den Olympischen Spielen 2002? Oder der russischen Amateuren gegen die NHL-Profis 1972? Oder die dynamische Entwicklung des Sportes und Qualifikationschancen der Kleinen zu den Grossen? Machen die FIFA/UEFA im Fussball im Vergleich zur NHL mit ihrem Bild einer Eishockey-WM trotz deutlich höheren Einnahmen und internationaler Beliebtheit alles falsch, indem sie viele Teams zulassen und selbst Verbänden wie jener der Färöer-Inseln, Andorra oder Papua-Neuguinea Qualifikationschancen einräumen? Offensichtlich kaum. Ein guter Kompromiss zwischen den Formen der IIHF-WM, World Cup und Olympischen Turniern zu Gunsten der internationalen Verbreitung des Eishockeys liesse sich nur finden, wenn die beteiligten Eishockey-Nationen ohne Vorurteile und Hochnäsigkeit an einen Tisch hocken würden. Solange die weltbeste Liga in dieser Hinsicht ausschert und die Liga zwar mittlerweile für Spieler aller Nationen offen hält, jedoch die Fans ausserhalb Nordamerikas für nationales Machtstreben diskriminiert, wird auf die Frage nach Wettkämpfen der weltbesten Nationen das Eishockey gegenüber anderen Teamsportarten immer ein Manko haben. Oder wie sagte der Kanadier Yvan Cournoyer nach dem Gewinn der umstrittenen 1972-er-Serie so schön? "Dieser Sieg ist zehn Mal schöner als der Gewinn des Stanley-Cups!"



World Cup of Hockey 2004
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