BACKGROUND



Schweizer Eishockeyjunioren-Entwicklung
eine etwas andere Sichtweise

von Thomas Roost, Central Scouting Europe


Die neuesten Thesen, die über unser Juniorenhockey in Umlauf gebracht werden, lassen uns glauben, dass unsere Junioren im Alter von 18-20 Jahren gegenüber der ausländischen Konkurrenz deutlich an Boden verlieren. Ich möchte dieser Einschätzung widersprechen und dies mit folgender Betrachtung:


Die neuesten Thesen, die über unser Juniorenhockey in Umlauf gebracht werden, lassen uns glauben, dass unsere Junioren im Alter von 18-20 Jahren gegenüber der ausländischen Konkurrenz deutlich an Boden verlieren. Ich möchte dieser Einschätzung widersprechen und dies mit folgender Betrachtung:

An der Junioren-WM U18 vor zwei Jahren in Finnland hat die Schweiz "böse gesagt" mit einem einzigen starken Spieldrittel (Mitteldrittel gegen Finnland im Halbfinal) die Silbermedaille geholt. Wir wurden in den Gruppenspielen von den USA dominiert (1-3-Niederlage, zu keinem Zeitpunkt hatten wir auch nur den Hauch einer Siegchance), von den Finnen wurden wir in fünf von insgesamt sechs Spieldritteln an die Wand gespielt (0-3 Niederlage im Gruppenspiel, 0-2 im ersten Drittel des Halbfinals) und diese Spiele waren auch optisch ziemlich einseitig. Im Viertelfinal hatten wir das Glück gegen die sich auf wundersame Weise qualifizierenden Deutschen zu treffen, die wir auch souverän bezwungen haben und im Halbfinal gelang uns dann dieses erstaunliche Mitteldrittel gegen Finnland (4-0), bei dem der Finnische Wundergoalie Kari Lehtonen (2nd-overall-Pick 2002) beinahe jeden Schuss passieren lassen musste (aus Sicht der Finnen war es übrigens nicht ein Wunderdrittel der Schweizer sondern ein Katastrophendrittel der Finnen...).
2. Auflage von "Puck-Dreams - Der steinige Weg in die "Big League", die legendäre NHL"

Der Schweizer NHL-Scout Thomas Roost, Autor dieses Artikels, befasst sich in dieser Broschüre mit dem Thema Schweizer und die NHL. Er sucht nach Gründen, wieso bis auf David Aebischer und Martin Gerber sich noch kein Schweizer Spieler in der NHL durchsetzen konnte und wie das Schweizer Eishockey auf der anderen Seite des Teichs angesehen wird. Darüber hinaus findet der Leser Hintergründe zum Scouting und der NHL sowie wertvolle Tipps für Eishockeytalente und alle, die sich mit dem Thema der Broschüre befassen wollen.

Die neue zweite Auflage der Broschüre ist für 16 Franken inkl. Versandkosten im Book-Shop von hockeyfans.ch erhältlich


Wie präsentiert sich die Situation heute, zwei Jahre danach? Wir gewinnen erneut die Spiele gegen die auf dem Papier schwächsten Mannschaften (Weissrussland und Deutschland) und dies mehr oder weniger problemlos, obwohl der Druck in beiden Spielen sehr gross war! Gegen die USA halten wir sehr gut mit (positives Schussverhältnis), gegen die Finnen gewinnen wir in einem Vorbereitungsspiel spektakulär 6:2 und gegen die Russen verlieren wir 5:7 (vor zwei Jahren 2:6). Hinzu kommt, dass vor zwei Jahren Tobias Stephan mit unglaublichen statistischen Werten gespielt hat (über 95% Savepercentage) und in diesem Jahr an der U20-WM hat er deutlich unterdurchschnittliche Werte aufzuweisen und dies, obwohl man bei Stephan sicher nicht feststellen muss, dass er sich nicht positiv entwickelt hat. Fairerweise muss gesagt werden, dass wir vor zwei Jahren die Slowaken besiegt haben und heuer haben wir verloren. Es gilt allerdings zu bedenken, dass vor allem bei den Slowaken (und teilweise auch bei den Tschechen) bereits im Alter von 17 Jahren viele Jungtalente in Nordamerika spielen, die jeweils nicht zur U18-WM im April abgestellt werden (Playoffs in den Major Junior Hockey-Leagues). Zur U20-WM werden jeweils sämtliche Spieler freigestellt (ausser diejenigen die bereits in der NHL tätig sind). D.h. die Spiele auf U18-Niveau sind aus Schweizer Sicht nicht immer sehr ehrliche Spiele, weil bei den gegnerischen Mannschaften (speziell Slowakei und teilweise auch Tschechien) oft ein paar sehr gute Spieler fehlen und dies gilt auch für Testspiele während der Saison der U20-Mannschaft gegen eben diese Teams (fehlende "Nordamerikaner"). Im Vorfeld zur diesjährigen U20-WM war es vor allem den osteuropäischen Scouts klar, dass die Schweiz gegen diese slowakische Mannschaft wahrscheinlich nicht gewinnen wird. Das Spiel war aber ziemlich ausgeglichen und eben diese Scouts haben unserem Team Komplimente verteilt. Alles in allem: Ich sehe alles andere als eine Verschlechterung unserer Jungs im Alter zwischen 18-20 Jahren.

Hingegen stimmt es mich nachdenklich was im Alter zwischen 20 und 25 Jahren geschieht. In dieser Zeitspanne scheinen wir tatsächlich an Boden zu verlieren. Eine gesicherte Erklärung gibt es hierfür (noch) nicht. Die Hypothesen wie z.B. "zu verweichlicht", "zu schnell zu viel Geld", "zu wenig gefordert", "keine Winnermentalität", "keine Muskelkraft", "nicht bereit alles zu geben" etc. etc. tönen für mich etwas hilflos und entsprechen wahrscheinlich nur sehr marginal der Wahrheit. Vielleicht ist es auch nur Zufall und kommende Zeitzyklen werden meiner Vermutung Auftrieb verleihen. Ich möchte an dieser Stelle zu bedenken geben, dass z.B. die Schweden über sehr ähnliche Wohlstandssymptome klagen, wie wir das tun und auch tschechische und russische Scouts erzählen von ähnlichen Sorgen. Es ist ja längst nicht mehr so, dass die Schweiz die einzige Wohlstandsgesellschaft auf dieser Erde beherbergt und mittlerweile hat uns die russische Liga als nach der NHL zweitbest bezahlende Liga abgelöst...die Welt verändert sich...und somit müssen wir mindestens mittelfristig auch nach anderen Thesen suchen für unser vorläufiges Scheitern in der A-Nationalmannschaft. Zudem: In der NHL kann man bis zu zehn Mal mehr verdienen als in der NLA...und dies ist sicher auch für die vor allem monetär denkenden Spieler ein Anreiz...

Meine Thesen:
Die Schweiz hat auch bei den U18-, U19- und U20-Junioren nicht das Niveau, das uns einzelne erzielte Resultate vortäuschen. Die Einzelspieler in den Ländern Kanada, Russland, USA, Tschechien, Finnland, Schweden und Slowakei sind im Durchschnitt noch gut erkennbar besser (Kanada, Russland und teilweise Tschechien) oder leicht besser (in den anderen vorerwähnten Ländern). Selbst Deutschland hat in den Jahrgängen 80-83 mit Goc, Ehrhoff und Seidenberg bessere Einzelspieler produziert als wir, was auch für den relativen Erfolg der Deutschen Nationalmannschaft mitverantwortlich ist. Uns fehlen die sehr guten Einzelspieler, denn unsere Erfolge bei den Junioren sind in erster Linie auf hervorragendes taktisches Verhalten und Mannschaftsspiel zurückzuführen. In Sachen Taktik und Disziplin sind unsere Juniorenauswahlmannschaften weltklasse. Beispielsweise die Russen hingegen spielen teilweise erstaunlich undiszipliniert und arrogant, dass sie sich oft selbst um den Erfolg bringen. Individuell sind sie aber derart überlegen, dass sie selbst so die meisten Spiele gewinnen. Im Alter nach 20 lernen sie dann oft auch das taktische Feinverhalten und auch Disziplin, so dass dann der Unterschied zu uns noch deutlicher zum Tragen kommt. Ähnliche Entwicklungen sehe ich vorab auch bei sehr jungen Spielern nordamerikanischer Mannschaften, die oft durch spieltaktisches Nichtwissen/Nichtwollen oder eindimensionales Spiel auffallen, welches sie aber im Verlaufe der Karriere durch Erfahrung locker aufholen. Individuelle Klasse, Talent lässt sich aber nach 20 Jahren nicht mehr so gut entwickeln. Dies könnte eine Erklärung sein für die sich öffnende Schere im Alter von 20-25 Jahren.

Die Russen arbeiten mit Drills und nochmals Drills an den individuellen Fähigkeiten bei den jungen Spielern. In Nordamerika ist die Aussage "have fun" mehr als eine Plattheit. Die lassen die Jungen vor allem spielen und sich auf dem Eisfeld verwirklichen. Derjenige der Posaune spielen will spielt Posaune und der Violinist darf auf seiner Geige brillieren. In Russland wie auch in Kanada wird aber mit sehr jungen Spielern noch sehr wenig in taktischen Zwangsjacken gearbeitet. Dies hindert die individuelle Entwicklung von Spielern. Tampa Bay's Jungstar Vincent Lecavalier hat erst mit über 20 Jahren begonnen zu lernen, auch defensive Aufgaben zu übernehmen und das russische Pendant Ilja Kovalchuk ist eben erst jetzt dabei, sich diese Fähigkeiten anzueignen. Wir müssen versuchen, noch bessere Einzelspieler zu produzieren, d.h. in den Trainings noch mehr mit spieltechnischen Drills arbeiten und im Spiel unsere Schmetterlinge fliegen lassen.

Eine Erkenntnis, die kurzfristig zu beheben sein sollte: Unsere Junioren weisen im Vergleich zu Ihren Pendants in den Spitzennationen geringere Kraftwerte in den Beinen auf. Die Beinmuskulatur ist von enormer Bedeutung im Eishockey, weit wichtiger als die oft etwas überschätzte Oberkörpermuskulatur.

Zusammenfassend möchte ich zu bedenken geben: Uns fehlt im Vergleich zur absoluten Weltspitze (Kanada, Russland, USA, Finnland, Tschechien, Slowakei und Schweden) die individuelle Klasse, unsere Spieler sind (noch) nicht so gut, um im direkten Vergleich mit den TopShots ganz mithalten zu können. Es ist unfair, unseren Nachwuchsspielern grundsätzlich fehlenden Willen und Verweichlichung etc. vorzuwerfen. Natürlich gibt es solche, aber solche Spieler gibt es in anderen Ländern auch.

Die oft zitierten Feststellungen "fehlende Kaltblütigkeit" "mangelnde Durchsetzungskraft", "fehlender letzter Wille", "Chancenauswertung", "Standfestigkeit im Slot" (= Beinmuskulatur...) etc. haben sicher auch ihre Berechtigung sind aber meiner Meinung nach nur ein kleiner Teil der Wahrheit, zumal die mangelnde Chancenauswertung sehr viel mit fehlender individueller Klasse zu tun hat und weniger mit mentaler Schwäche.

Vielleicht müssen auch wir, die Beobachter, lernen, einen 7. Rang an einer Junioren-WM als Erfolg zu werten - es ist wohl utopisch zu glauben, dass wir je zu den Grossnationen Kanada und Russland aufschliessen werden. Realistischerweise sollten wir uns die Slowaken als Massstab nehmen, diese haben aber den (noch) unschätzbaren Vorteil, dass sie bereits viele NHL-Spieler produziert haben, die ihre Erfahrungen am Ende ihrer Karriere jeweils nutzbringend in die Nachwuchsförderung miteinbringen. Dem können wir (noch) nichts entgegensetzen. Bis unsere ersten NHL-Spieler am Ende ihrer Karriere in die Schweiz zurückkehren dauert es noch ca. 10 Jahre und vorher ist es wahrscheinlich auch unrealistisch, die Slowaken überholen zu wollen. Alle anderen Erwartungen sind aus meiner Sicht überheblich, arrogant und naiv.

Freuen wir uns aber an den meiner Meinung nach wirklich guten Erfolgen unserer Nachwuchsteams (seit Jahren beständig in der A-Gruppe!), das ist ein sehr guter Erfolg und zeigt, dass unser Nachwuchsprogramm hervorragend funktioniert, da wurde und wird sehr gut gearbeitet! Dies wird auch von internationalen Beobachtern wohlwollend anerkannt....aber bitte, bitte: Überschätzen wir uns nicht!

...ist das denn die Wahrheit, die ich Ihnen hier präsentiert habe? Nein, natürlich nicht, die Wahrheit kenne auch ich nicht, aber es lohnt sich vielleicht, über die eine oder andere These nachzudenken...die Diskussion sei eröffnet...

Thomas Roost
Central Scouting Europe

....übrigens, im kommenden Draft (Juni 2003) werden die Österreicher mit Thomas Vanek voraussichtlich einen Erstrundenpick vorzeigen können...nicht wir Schweizer...



Links

U20-WM 2002/03
Central Scouting


Background-Archiv